Berlin. Tausende Kinder werden als Frühchen geboren. Damit sie die bestmögliche Versorgung bekommen, ändern ich jetzt die Regeln für Kliniken.

Paul wog bei seiner Geburt 490 Gramm. Normal sind 3500 Gramm. Der kleine Kerl kam in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt, siebzehn Wochen zu früh. Seine Mutter war in der 22. Woche mit einer Schwangerschaftsvergiftung in die Uniklinik Dresden eingeliefert worden, die Ärzte schafften es, dass Mutter und Kind noch ein paar für die Entwicklung lebenswichtige Tage durchhielten – dann kam das Frühchen Paul auf die Welt.

In Dresden behandeln sie pro Jahr bis zu 100 Fälle, bei denen die Kinder weniger als 1250 Gramm wiegen, jedes zehnte Frühchen liegt mit seinem Geburtsgewicht sogar unter 500 Gramm. Ab Januar 2024 sollen Fälle wie Paul nur noch in Kliniken landen, die wie die Dresdner mindestens 25 dieser extrem kleinen Frühchen pro Jahr versorgen. Viele Länder wehren sich jedoch dagegen, weil sie fürchten, dass durch den Wegfall einiger Frühchen-Standorte die Versorgung schlechter wird. Die Kassen dagegen warnen: Wer die neue Vorgabe umgeht, gefährdet das Leben vieler Neugeborener. Was werdende Eltern jetzt wissen müssen.

Wie oft kommt es zu extremen Frühgeburten?

Im vergangenen Jahr kamen in Deutschland knapp 740.000 Kinder zur Welt. Rund 6500 Kinder, weniger als ein Prozent, waren nach Angaben des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm. Für diese sehr kleinen Frühgeborenen gibt es laut Kassenverband derzeit etwa 160 Zentren, die eine maximale Intensivversorgung leisten können.

Je früher die Geburt, umso höher ist die Gefahr schwerer Schädigungen. Um das Risiko möglichst klein zu halten, beginnt die Behandlung bei drohenden Frühgeburten schon vor der Entbindung. Wenn sich die Geburt nicht weiter herauszögern lässt, ist das wichtigste Ziel, die Lungenfunktion des Säuglings zu aktivieren: Säuglinge, die zu früh geboren werden, können nicht selbstständig atmen, Ärztinnen und Ärzte müssen nachhelfen, damit die „Lungenreife“ durch Medikamente und später mechanische Atemhilfe möglichst schonend erreicht wird. Angesichts der extrem verletzlichen Säuglinge sind hoch spezialisierte Teams nötig. Bis extrem kleine Frühchen stabil genug sind, um nach Hause entlassen zu werden, kann es Monate dauern.

Ein Erwachsener hält die Hand eines winzigen Säuglings.
Ein Erwachsener hält die Hand eines winzigen Säuglings. © iStock | Farrukh Saeed

Was gilt im Moment – und was soll sich ändern?

Bei Frühchen-Stationen gelten sogenannte Mindestmengen, die der Gemeinsame Bundesausschuss von Kassen, Kliniken und Ärzten (GBA) festgelegt hat. Krankenhäuser, die Neugeborene mit weniger als 1250 Gramm Geburtsgewicht behandeln wollen, müssen derzeit mindestens 20 solche Fälle im Jahr betreuen. Vor 2020 lag die Untergrenze bei 14 Fällen, ab 1. Januar 2024 sind 25 Fälle vorgeschrieben. „Würde man die Mindestmenge auf 70 erhöhen, könnte jährlich mehr als 70 Kindern das Leben gerettet werden“, sagt Mario Rüdiger, Leiter der Neonatologie der Uniklinik Dresden und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin. Die Fallzahl 25 sei bereits ein Kompromiss – den Eltern der Frühchen sollen nicht zu lange Anfahrtswege zugemutet werden.

Warum wehren sich viele Länder gegen die neue Regel?

Die Länder sorgen sich um ihre Klinikstandorte und warnen vor Versorgungslücken und personeller Überlastung der verbliebenen Standorte. Viele Frühchen-Stationen könnten die neue Mindestmenge nicht erreichen, mahnt der Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, Baden-Württembergs Ressortchef Manne Lucha (Grüne). Laut AOK-Berechnungen wären durch die neuen Mindestmengen bundesweit 13 Geburtsstationen betroffen. Acht Länder – Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg – hatten deswegen versucht, sich gegen die Regelung zu wenden. Weil sie sich damit bislang nicht durchsetzen konnten, geht Baden-Württemberg jetzt einen anderen Weg. „Ich möchte, dass alle Kliniken weiter versorgen können“, sagte Lucha dieser Redaktion. Die Perinatalzentren leisteten hervorragende Arbeit, ob sie nun 10 oder 20 Kinder im Jahr behandelten. Experten widersprechen hier vehement: „Es gibt zahlreiche Studien, die einen Zusammenhang zwischen Mindestmengen und Qualität bei der Versorgung von Frühchen belegen. Da kann sich Herr Lucha nicht einfach hinstellen und das Gegenteil behaupten“, sagt Christian Poets, ärztlicher Direktor der Neonatologie der Uniklinik Tübingen.

Lucha will Ausnahmegenehmigungen für Kliniken mit weniger Fällen erteilen – und sich juristisch wehren: Man prüfe, „alle in Betracht kommenden rechtlichen Möglichkeiten, auch den Gang vors Bundesverfassungsgericht“. In Baden-Württemberg geht es derzeit laut Sozialministerium um drei der 21 Perinatalzentren. Auch in Brandenburg warnt die dortige Gesundheitsministerin Ursula Nonnenmacher (Grüne): „Wenn wir nächstes Jahr auf 25 Kinder, die behandelt werden müssen, hochgehen, dann ist auch Brandenburg/Havel und selbst unsere beiden Großstädte Cottbus und Potsdam schon gefährdet.“

Experten treibt die Sorge um, dass hinter dem Widerstand der Länder schlicht finanzielle Gründe stehen: Für die Versorgung eines Kindes, das mit 500 Gramm zur Welt kommt, bekommt das Krankenhaus rund 140.000 Euro. Ohne solche Fälle würde das Loch in der Kasse der notorisch unterfinanzierten Kinderkliniken noch weiterwachsen. Mancher vermutet hinter dem Widerstand auch die Sorge um Renommee-Verlust aufseiten einiger Klinikchefs.

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Wie geht es jetzt weiter?

In Baden-Württemberg laufen viele Experten Sturm gegen das Festhalten an den alten Mindestmengen. Auch die Kassen sind alarmiert und warnen vor fatalen Folgen: „Die Anhebung der Mindestmenge auf 25 rettet Leben“, sagte Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands dieser Redaktion. „Wir haben kein Verständnis dafür, dass einige Bundesländer die Verbesserung der Frühchen-Versorgung verhindern wollen.“ Die Versorgung in Zentren mit nur wenigen Fällen pro Jahr gefährde nachweislich die Gesundheit und das Leben von Frühgeborenen. „Das frühe Erkennen klinischer Anzeichen für schwerwiegende Komplikationen ist entscheidend für das Überleben des Kindes. Das gelingt nur bei einschlägiger Erfahrung des gesamten Teams.“

Aus Sicht der Kassen ist die Sorge vor Versorgungslücken unbegründet: Keine normale Geburtsklinik müsse wegen der höheren Mindestmengen schließen. Es entstünden auch keine zusätzlichen Risiken durch verlängerte Transportwege. Die allermeisten Schwangeren mit drohender Frühgeburt würden bereits vor der Geburt stationär aufgenommen, die Entbindung sei in der Regel planbar. Kindermediziner Rüdiger kennt viele betroffene Eltern: Sie würden, sagt der Dresdner, mehrheitlich längere Wege in Kauf nehmen, Hauptsache, die Überlebenschancen ihrer Frühgeborenen stiegen. Sein Tübinger Kollege Poets ist regelrecht wütend auf die Landespolitik: „Am unverantwortlichen Umgang mit den Mindestmengen sieht man einmal mehr: Kinder haben keine Lobby, und die kleinsten schon gar nicht.“