Ramallah/Bethlehem. Nach den Terrorattacken der Hamas könnte sich im Westjordanland die dritte Front gegen Israel nach dem Gazastreifen und Süd-Libanon auftun.
Der Junge wirbelt auf dem verrußten Asphalt neben den umgestürzten Containern um die eigene Achse und schleudert einen Stein in Richtung eines israelischen Militärfahrzeugs. In der Nähe stehen Krankenwagen der palästinensischen Gesundheitsbehörden. Aus sicherer Entfernung beobachten andere Männer an einer Tankstelle die Szene, sie sind älter, die meisten in ihren Zwanzigern. Hinter dem gepanzerten israelischen Fahrzeug ragt die sechs Meter hohe Mauer auf, die bei Ramallah das Palästinensergebiet von Israel trennt. Es sind bekannte Bilder. Aber in diesen Tagen wirken sie wie Menetekel. Das Westjordanland könnte zu einer weiteren Front im Nahost-Krieg werden.
Die Mauern und Zäune, die das Westjordanland heute von Israel trennen, wurden während der zweiten Intifada, dem Palästinenseraufstand Anfang der 2000er, errichtet, nachdem bei Selbstmordanschlägen Hunderte Israelis getötet worden waren. Nach dem Bau der Sperranlagen ging die Zahl der Selbstmordanschläge zurück. Für die meisten Palästinenser aber sind sie wie die illegal errichteten jüdischen Siedlungen oder die Präsenz israelischer Truppen in vielen Teilen des Westjordanlands Ausweis ihrer Unterdrückung.
Nach der beispiellosen Terror-Attacke der Hamas und den militärischen Gegenschlägen der Israelis gegen Gaza, die schon Tausende Tote gefordert haben, droht jetzt ein neuer Aufstand im Westjordanland. Neben Gaza und der Grenze zum Süd-Libanon, wo die schiitische Hisbollah seit Tagen nach Israel schießt, könnte Israel mit einer dritten Front konfrontiert werden.
Ramallah, der Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde, ist eine Stadt mit rund 35.000 Einwohnern. An diesem Mittwoch haben die meisten Geschäfte geschlossen. Nach der Explosion am Ahli-Arab-Krankenhaus in Gaza ist zu einem dreitägigen Generalstreik aufgerufen worden. Es riecht nach dem Abfall, der an den Straßen liegt und Rauch, der aus Containern wabert, in denen der Müll angezündet worden ist. Auf dem Al-Manara-Platz haben sich Hunderte Menschen versammelt. Die meisten sind jung, aufgeregt und wütend.
Majdi hat sich eine Kufiya um den Kopf geschlungen, das schwarz-weiße Tuch, das zum Symbol für die Kämpfe der Palästinenser geworden ist. „Ich gehe davon aus, dass es hier zu einem Aufstand kommt“, sagt er. Angst hat er nicht. Er sehnt die Eskalation herbei. Majdi zeigt auf seine Schulter und den Unterschenkel. „Ich bin schon zweimal verwundet worden, hier oben habe ich 14 Splitter. Ich bin bereit zu kämpfen.“ In seiner Welt gibt es keinen Platz für jüdisches Leben in der Region. „Die Juden sollen dahin gehen, wo sie hergekommen sind.“
Der Druck auf die regierende Fatah wächst
Die Radikalität der jungen Menschen hat verschiedene Abstufungen. Beilasan, die mit ihren Freundinnen an dem Protest teilnimmt, sagt, sie habe kein Problem mit Juden. „Wir haben ein Problem mit der israelischen Regierung.“ In dem Palästina, das sie sich wünscht, würden alle Religionen akzeptiert werden, betont die 22-jährige Studentin. Der Staat Israel aber würde aufhören zu existieren.
Kein Gesprächspartner auf dem Platz gesteht Israel das Existenzrecht zu. Niemand verurteilt die Terror-Attacke der Hamas, die rund 1400 israelische Leben gekostet hat und die Ursache für die aktuelle Eskalation ist. Ein Massaker ist für die jungen Leute hier nicht der Angriff der Hamas, sondern es sind die israelischen Luftangriffe auf Gaza.
„Natürlich sollten wir Angst haben vor dem was kommt, aber wir sollten jetzt auch der Besatzung entschlossen entgegentreten“, sagt Beisalan. Wütend sind die jungen Leute auch auf ihre eigene Führung unter dem Langzeitpräsidenten und Fatah-Politiker Mahmud Abbas, der sie vorwerfen, zu diplomatisch zu sein, mit Israel zusammenzuarbeiten, und nichts für die Palästinenser zu erreichen.
Der Druck auf die im Westjordanland regierende Fatah, deren Sicherheitskräfte eng mit den israelischen kooperieren, wächst. Gäbe es Präsidentschaftswahlen im Westjordanland, würde Hamas-Chef Ismail Hanija deutlich vor Abbas liegen, ergab bereits im September eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung. Schlimmstenfalls könnte die Fatah zu der Analyse kommen, es sei für sie überlebensnotwendig, einen neuen großen Aufstand zu tolerieren, wenn nicht gar zu unterstützen.
Schon vor der Terrorattacke der Hamas auf die israelischen Gemeinden nahe dem Gazastreifen hatten die Spannungen in der Region zugenommen. Im Juli und September rücken israelische Truppen in das Flüchtlingslager bei Dschenin im Norden des Westjordanlandes ein, um gegen Terroristen vorzugehen. Die Israelis liefern sich Feuergefechte mit Bewaffneten, zerstören Häuser und töten 16 Menschen. Seit dem 7. Oktober sollen laut den Gesundheitsbehörden der Autonomiebehörde im Westjordanland mindestens 75 Palästinenser bei Protesten getötet worden sein. Die israelischen Streitkräfte melden am Donnerstag bereits weit mehr als 500 Verhaftungen. Die jeweiligen Angaben sind nicht überprüfbar.
Die großen Checkpoints zwischen Israel und dem Westjordanland sind geschlossen. Auf einem Schleichweg gelangt man trotzdem von Ost-Jerusalem nach Betlehem. Am Mittwoch stehen etwa 100 Menschen in der Mittagssonne vor der Geburtskirche. Es sind muslimische und christliche Palästinenser, unter ihnen Priester. Auch sie demonstrieren gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen. Mitri Raheb, lutheranischer Pastor und Präsident der Dar-al-Kalima-Universität, klagt: „Wir sehen in diesen Tagen Kriegsverbrechen, die an unseren Leuten begangen werden.“
Auch Raheb macht Israel für die Explosion am Krankenhaus in Gaza verantwortlich. Die von Israel vorgelegten Videos, Bilder und Analysen, die darauf schließen lassen, dass eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihads auf dem Parkplatz eingeschlagen ist, werden als Propaganda abgetan.
„Der Krieg in der Westbank hat bereits angefangen“
Die Demonstranten an der Geburtskirche tragen Schilder, auf denen politische Führer des Westens bezichtigt werden, für einen „Völkermord“ verantwortlich zu sein. Issam, 62, hält ein Schild in die Höhe auf dem steht: „Die Hände Deutschlands sind genauso blutig wie die Israels“. Er hat in Weimar studiert, spricht ein wenig Deutsch. „Deutschland unterstützt Israel, das gerade ein Massaker im Gazastreifen durchführt“, sagt er.
Wie die jungen Demonstranten in Ramallah kann sich auch Issam nicht zu einer Verurteilung der Hamas und des Überfalls vom 7. Oktober durchringen. Er reagiert wütend auf die Frage, ob die Tötung von Kindern, Frauen und Männern als Terror zu bezeichnen ist. Seit 1948 seien Abertausende Palästinenser von den Israelis getötet worden. „Gaza ist ein großes Gefängnis. Das palästinensische Volk hat ein Recht, gegen die Besatzung zu kämpfen.“ Issam glaubt auch: „Der Krieg in der Westbank hat bereits angefangen.“