Jerusalem. An mehreren Fronten attackieren Terrorgruppen aus dem Gazastreifen Israel. Die Furcht vor einer weiteren Eskalation ist gewaltig.
„Es ist Krieg.“ Knappe Worte des israelischen Armeesprechers reichten, um wenige Stunden nach dem Überraschungsangriff der Hamas auf Israel anzudeuten, wie groß der Schock war. Am Morgen des Schabbat und zugleich am Morgen des jüdischen Festes Simchat Thora griffen die Terrorgruppen aus Gaza Israel von mehreren Fronten aus an – aus der Luft, über den Landweg und vom Meer aus. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wandte sich aus dem Militärhauptquartier an die Bevölkerung: „Bürger Israels, wird sind im Krieg“, sagte er.
Israels Streitkräfte waren völlig unvorbereitet auf das Ausmaß der Attacken: Zu Tausenden Raketenangriffen, die von Gaza aus abgefeuert wurden, kam diesmal auch der Durchbruch der massiven Barriere, die den Gazastreifen von Israel trennt. Dutzende bewaffnete Terroristen drangen in mindestens zehn israelische Dörfer ein, schossen um sich, kidnappten Soldaten und Zivilisten, besetzten Militärbasen und brachten Geiseln nach Gaza – wie viele, ist noch unbekannt.
Angriff auf Israel: „Was wir hier sehen, ist wohl der Anfang von etwas Großem“
Niemand erwartet, dass es diesmal nach ein paar Tagen vorbei sein wird. „Was wir hier sehen, ist wohl der Anfang von etwas Großem“, sagt Giora Eiland, ehemaliger Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats in Israel: „Wir sind nahe an einer Katastrophe“.
Schon am ersten Tag hatte das Blutvergießen Ausmaße, wie man es lange nicht gesehen hat. Binnen sechs Stunden stieg die Zahl der Verwundeten bereits auf über 740, mindestens 40 Israelis waren allein bis Samstagmittag durch die Gewalt der Hamas getötet worden. Damit ist die Zahl der Todesopfer binnen weniger Stunden bereits auf das Vierfache dessen gestiegen, was in elf Tagen militärischer Auseinandersetzung im Mai 2021 verzeichnet wurde.
Alle Ärzte sollen sofort ihre Auslandsreisen abbrechen, verkündete der Generaldirektor des Gesundheitsministerium. Die Rettungsorganisation Roter Davidstern rief die Allgemeinheit zum Blutspenden auf. Tausende Reservisten wurden mobilisiert.
Lesen Sie auch den Kommentar: Der Krieg gegen Israel hat eine völlig neue Dimension
Hamas attackiert Israel – Beobachter sieht „wahre Schlacht“
Am Samstag war die Armee vor allem darauf fokussiert, den Eindringlingen aus Gaza aufzuspüren, die sich auch am Nachmittag immer noch in den Dörfern und Städten im Süden Israels bewegten. Sie mordeten, brachten Krankenwagen unter ihre Kontrolle, erschossen Sanitäter. Ein Beobachter der Lage sprach von „einer wahren Schlacht“.
Im Umkreis von 80 Kilometern rund um den Gaza-Grenzübergang rief die Armee den Ausnahmezustand aus. Größere Versammlungen sind verboten, die samstägliche Großdemonstration gegen die Regierung wurde abgesagt.
Während die Hamas und ihre Anhänger triumphieren, zittern die Zivilisten in Gaza vor dem, was sie in den nächsten Tagen erwartet: Massive Bombardements und eine Blockade, die die 1,8 Millionen Menschen langsam aushungert und es den Spitälern und Krankenhäusern unmöglich macht, die Verwundeten zu versorgen. „Menschen stürmen Supermärkte und Bäckereien“, sagt Maha Husseini von der Menschenrechtsorganisation Euromed.Org. Es gibt für Zivilisten kaum Luftschutzräume, in die sich die Menschen vor den Luftangriffen retten können.
Lesen Sie auch: Benjamin Netanjahu: „Bürger Israels, wir sind im Krieg“
Warnung vor einem Mehr-Fronten-Angriff auf Israel
Seit Monaten hatten Militärstrategen vor einem Mehr-Fronten-Angriff auf Israel gewarnt. Israels Feinde wussten, dass das Land wegen der massiven innenpolitischen Turbulenzen geschwächt dasteht. Dass Hunderte Reservisten, darunter auch Militärpiloten, aus Protest gegen den geplanten Justizcoup der Regierung ihre Bereitschaft beendet hatten, war auch ein Zeichen an die Terroristen: Wann, wenn nicht jetzt?
Nun fragen sich viele, wie es dazu kommen konnte, dass die Armee der Attacke am Samstag derart unvorbereitet gegenüber stand. Militärexperte Eiland nimmt Netanjahus Regierung in die Pflicht: „Monatelang war das ganze Land von den falschen Dingen abgelenkt“. Dazu kommt, dass die Regierung wichtige Teile der Truppen ins Westjordanland verlagert hatte, um die dort lebenden jüdischen Siedlern vor den massiv zunehmenden Terrorattacken zu schützen. „Diese Truppen fehlen nun an der Grenze zum Gazastreifen“, sagt Eiland.
In Israel rief der Überraschungsschlag bei vielen die Erinnerung an den verheerenden Jom Kippur-Krieg vor 50 Jahren wach, der von Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten gegen Israel geführt wurde. Eiland hält den Vergleich für verfehlt. „Damals war die Lage viel ernster“, sagt er. War es im Jahr 1973 ein Bündnis mehrerer Staaten, stehe Israel heute mit der Hamas in Gaza einem vergleichsweise schwachen Gegner gegenüber. Das könnte sich aber jederzeit ändern, denn der entscheidende Faktor für den weiteren Kriegsverlauf ist, ob sich die vom Iran gesteuerte Hisbollah im Libanon an der Attacke beteiligt. Dann stünden nicht nur der Süden, Tel Aviv und Jerusalem unter Beschuss, sondern auch der Norden Israels – Haifa und Galiläa.
Lesen Sie auch: Propaganda-Video zeigt Hamas-Terroristen mit Gleitfliegern
Terror-Miliz Hisbollah gratuliert der Hamas
Zunächst gratulierte die Hisbollah-Miliz: „Die Hisbollah beglückwünscht das palästinensische Volk und seine Verbündeten der Al-Kassam-Brigaden und der Hamas“ für „diese heldenhafte, großangelegte“ und „siegreiche Operation“, hieß es in einer Erklärung. „Das Kommando des islamischen Widerstands im Libanon“ stehe „in direktem Kontakt mit der Führung des palästinensischen Widerstands zuhause und im Ausland“ und bewerte fortlaufend „die Ereignisse und die Ausführung der Operationen“, heiß es weiter. Die Bezeichnung „Achse des Widerstands“ steht für palästinensische, libanesische, syrische und weitere Bewegungen, die dem Iran nahe stehen und Israel feindlich gegenüberstehen.
Neben der Frage, ob sich der Krieg auf die Nordgrenze ausweitet, machen die Geiselnahmen Sorge: Israel wird darauf bestehen, dass jede einzelne Geisel wieder zurück nach Hause gebracht werden kann. Das könnte Israel in die Lage bringen, auch Bodentruppen in den Gazastreifen senden zu müssen – ein Szenario, das man in den vergangenen Jahren strikt vermeiden wollte.
Bis alle Geiseln – darunter soll sich auch ein Kommandant der Armee befinden – befreit werden können, wird aber einige Zeit vergehen. Die Terrorgruppen im Gazastreifen werden im Gegenzug die Freilassung palästinensischer Gefangener verlangen. Eine baldige Waffenruhe ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in Sicht.
Auch Interessant: Justizreform: Demokratie in Gefahr? Zerreißprobe für Israel