Kiew. Die ukrainischen Angriffe auf die Krim werden immer heftiger. Die Bevölkerung vor Ort fühlt sich von Russland im Stich gelassen.

Nichts sollte den Alltag auf der Krim stören. Seit Russland die Halbinsel 2014 besetzt hält, versuchen die Behörden alles, um ein gewisses Normalitätsgefühl aufrechtzuerhalten – um jeden Preis. Obwohl die Ukraine Ziele auf der Krim bereits spätestens seit August 2022 angreift, wurde bis zuletzt nicht einmal Luftalarm bei Drohnen- und Raketengefahr ausgelöst. Die Bedrohung der Bewohner wurde in Kauf genommen. Denn selbst wenn die Flugabwehr erfolgreich ist, kann niemand garantieren, dass Trümmerteile nicht doch auf Wohnhäuser und Straßen fallen und Menschen verletzen oder töten.

In den vergangenen Wochen ist der Krieg heftiger denn je auf der Krim angekommen: Nach einer Reihe von erfolgreichen Operationen seit Ende August gelangen der Ukraine zwei militärische Meisterstücke. Die Ukrainer trafen mit den britischen Marschflugkörpern Storm Shadow zunächst ein wichtiges Landungsschiff sowie ein U-Boot, vom dem aus Raketen auf ukrainische Städte geschossen worden waren. Dann griffen sie das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol an – ein symbolisches Gebäude, das jeder in der Stadt kennt. Plötzlich war alles anders.

Auf der Krim funktionieren die Warnsirenen oft nicht, Luftschutzkeller sind geschlossen

„Ich würde nicht sagen, dass Sewastopol unter Schock steht. Es ist eine Flottenstadt durch und durch. Viele haben irgendeine Verbindung zum Militär und wissen, dass beim Krieg nicht nur in eine Richtung geschossen wird“, sagt Alexej, ein Bankmitarbeiter mittleren Alters. Er ist ethnischer Russe, war aber vor der Annexion ukrainischer Staatsbürger; nun hat er auch den russischen Pass. „Es war vollkommen klar, dass sowas kommt – und trotzdem funktionieren Warnsirenen nicht überall, sind Luftschutzkeller oft geschlossen“, sagt Alexej. „Man fragt sich schon, was die Behörden die vergangenen eineinhalb Jahren so gemacht haben.“

Das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte wird im September von einer ukrainischen Rakete getroffen.
Das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte wird im September von einer ukrainischen Rakete getroffen. © imago/ITAR-TASS | IMAGO/Sergei Malgavko

Erst seit wenigen Wochen erklären Krim-Medien den Bewohnern, wo man sich während eines Luftangriffs in der Wohnung aufhalten sollte, wenn man es nicht in den Keller schafft – und Psychologen geben Ratschläge, wie man mit der Angst umgeht.

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Für eine Studentin ist klar, dass dies den Alltag umkrempeln wird. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass diese neue Realität länger anhalten wird. Je schneller man das akzeptiert, desto besser“, meint die junge Frau aus der ebenfalls oft angegriffenen Stadt Jewpatorija im Westen der Krim. Sie will lieber anonym bleiben. Ihre Mutter gehört zu der Minderheit der Krimtataren – wie zwölf Prozent der Bevölkerung.

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Trotz Annexion verlief der Alltag auf der Krim lange Zeit normal

Ob Studentin oder Bankangestellter: Zwischen März 2014, als Russland die Krim okkupierte, und Februar 2022, als der offene Krieg gegen die Ukraine begann, war für sie und die meisten Menschen auf der Krim das Leben vergleichsweise normal. Die massiven Repressionen gegen politisch aktive Krimtataren und Ukrainer, die gegen die russische Annexion rebellierten, spielten im Alltag kaum eine Rolle oder wurden bewusst verdrängt.

Dass die Krim nun unter russischer Kontrolle steht, zeigte sich für die meisten Bewohner vor allem, weil westliche Firmen die Halbinsel wegen Sanktionen größtenteils verließen – und weil es Probleme mit der Wasser- und Stromversorgung gab. Die Krim war früher stark vom ukrainischen Festland abhängig.

Doch die Geschäfte waren voll und nur wenige Menschen machten sich Gedanken darüber, ob sich der Status quo auf der Halbinsel noch einmal ändern könnte. Das war auch in Kiew ähnlich: Man unterstrich zwar immer wieder nach 2014, dass das Krim-Problem zu den Prioritäten der ukrainischen Regierung gehört. Eine mögliche Rückeroberung der Halbinsel war aber nie ein ernsthaftes Thema.

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In den vergangenen Monaten hat sich aber auch die Stimmung gedreht. „Mir fällt nur ein einziger Umstand auf, der sich zum Positiven verändert hat: Weil die Sanktionen nun auch gegen Russland selbst und nicht mehr nur gegen russische Aktivitäten auf der Krim verhängt wurden, sind nun große russische Banken endlich hier eingestiegen“, erzählt Andrej (Name geändert), ein Kleinunternehmer aus Simferopol.

Er selbst ist ethnischer Russe, war vor der Annexion aber ukrainischer Staatsbürger. Jetzt besitzt er den ukrainischen und den russischen Pass. „Viele haben gedacht, dass die Krim der Russischen Föderation beitritt. Jetzt ist sozusagen die Russische Föderation der Krim beigetreten.“

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Die ukrainische Gegenoffensive läuft – die Angriffe auf der Krim häufen sich

So wie viele andere Menschen auf der Krim beschäftigt Andrej derzeit vor allem die Frage, ob es in absehbarer Zeit aktive Kampfhandlungen geben könnte. „Das ist der Elefant im Raum“, sagt er. Die ukrainische Gegenoffensive läuft, die Angriffe häufen sich. Die Ukraine hat ihr Maximalziel, die sogenannte Landbrücke zur Halbinsel zu durchbrechen, weiter im Blick.

„Alle wissen, dass es zumindest nicht mehr unmöglich ist. Doch selbst meine Eltern im Norden der Krim, wo die Gefahr am größten ist, haben keinen Notfallplan“, sagt Andrej.

Dmitrij (Name geändert) beschreibt die Stimmung auf der Krim als „tiefe Depression“. Die Menschen versuchten, im Hier und Jetzt weiterzuleben. „Doch die Ungewissheit über das, was folgen könnte, liegt in der Luft“, sagt der junge Mann aus Sewastopol, der in der Werbebranche tätig ist. Auch er gehört zu den ethnischen Russen, wie 60 Prozent der Bevölkerung. 25 Prozent sind offiziell ethnische Ukrainer, aber die Grenzen sind unscharf, denn die Vermischung zwischen Ukrainern und Russen ist groß. Experten halten die Ergebnisse von Volkszählungen daher für eine Art Selbstidentifikation.

Dmitrij erzählt von der patriotischen Welle, die es bei den aktiven Unterstützern Russlands am Anfang noch gegeben habe. Doch nachdem im September 2022 die Mobilmachung verkündet wurde, sei das vorbei gewesen. „Die Menschen, die schon lang auf der Krim leben, verstehen, dass es eng werden könnte“, sagt Dmitrij. „Für sie ist es aber meist gar nicht die große Frage, ob sie in Russland oder in der Ukraine leben werden. Sie würden auch auf einer türkischen Krim leben, wenn ihre Familien sicher sind. Offen diskutiert darüber aber niemand.“

Vor allem zugezogene Russen fürchten die Rückeroberung der Krim

Die Menschen, die erst nach der russischen Machtergreifung auf die Krim gekommen sind, hätten große Sorgen, sagt Andrej. „Eine Rückeroberung durch die Ukraine wäre für 200.000 bis 300.000 Russen, die nach 2014 auf die Krim gezogen sind, ein großes Problem. Sie müssten sofort auf das russische Festland abhauen, genauso wie ein paar zehntausend Menschen, die wegen ihrer Tätigkeit als Beamte oder Ähnliches als Kollaborateure bewertet werden könnten.“

Das Satellitenfoto zeigt: Vom Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol steigt Rauch auf, nachdem es bei einem Raketenangriff des ukrainischen Militärs getroffen wurde.
Das Satellitenfoto zeigt: Vom Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol steigt Rauch auf, nachdem es bei einem Raketenangriff des ukrainischen Militärs getroffen wurde. © dpa | Uncredited

Wie kompliziert die Stimmung auf der Krim inzwischen ist, zeigt alleine die Tatsache, dass selbst eher prorussisch eingestellte Menschen sich nicht öffentlich äußern wollen – dies tun fast nur die Leute, die ohnehin schon auf der russischen Seite so aktiv waren, dass sie für die Ukrainer ohnehin als Kollaborateure gelten würden.

Ukraine-Sympathisanten äußerten sich auch in den Jahren zuvor bereits aus Angst vor politischer Verfolgung nicht. Klar ist aber jedenfalls, dass die Krim als wichtigste logistische Route für die russische Armee im Süden der Ukraine ein Eckpunkt dieses Krieges ist – und dass es auf der Halbinsel in absehbarer Zeit unruhig bleibt.

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