Kornidzor. 53.000 Menschen sind auf der Flucht aus Bergkarabach – manche nicht zum ersten Mal, doch nun für immer. Sie sind Zeugen eines Exodus.
Edgar Shabulyan steht in den Wolken aus Staub und Abgasen und schaut in die Autos, die sich langsam an ihm vorbeiquälen. In vielen sitzen sechs oder sieben Menschen. Shabulyan blickt in erschöpfte Gesichter, er sieht die Gepäckbündel auf den Autodächern, es sind die Habseligkeiten, die die Menschen in den Fahrzeugen retten konnten. Wenn der 38-Jährige ein Kind unter den Flüchtlingen sieht, reicht er ihm eine Tafel Schokolade. Es ist für die Kleinen die erste Süßigkeit, die sie seit neun Monaten essen können.
Shabulyan weiß, was diese Menschen durchmachen. Er ist vor drei Jahren selbst aus Bergkarabach geflohen. „Diesmal werden alle vertrieben“, sagt er traurig. Er ist Zeuge eines Exodus, des Endes der jahrhundertealten armenischen Geschichte Bergkarabachs.
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Kornidzor ist der letzte Ort in Armenien vor der Grenze zu Aserbaidschan. Eine Woche nach dem aserbaidschanischen Überfall auf Bergkarabach, der nach einem Tag heftiger Luftangriffe mit der Niederlage der Verteidiger endete, ist Kornidzor das Nadelöhr für Tausende Karabach-Armenier, die ihre Heimat verlassen. Es ist eine Karawane der Verzweifelten.
Arsen: „Die Situation in Stepanakert ist schrecklich“
„Die Situation in Stepanakert ist schrecklich“, erzählt Arsen, 50, der mit seiner Frau vor einem Stand steht, an dem Freiwillige Brot, Käse und Süßigkeiten verteilen. „Es gibt keinen Treibstoff, nur selten Strom, die Leute leiden Hunger.“ Stepanakert ist die Hauptstadt Bergkarabachs, der Region in Aserbaidschan, die seit Jahrhunderten von Armeniern besiedelt ist.
In der Sowjetzeit wurde sie von Stalin Aserbaidschan zugeschlagen. 1991 erklärte sich Bergkarabach als unabhängig. Daraufhin führten das mehrheitlich islamische Aserbaidschan und das mehrheitlich christliche Armenien einen erbitterten Krieg um die Region, mindestens 30.000 Menschen starben.
Armenien ging als Sieger aus dem Krieg hervor und kontrollierte Bergkarabach in den Jahren danach jahrzehntelang. Völkerrechtlich gilt die Region allerdings bis heute als aserbaidschanisch. Befriedet wurde der Konflikt nie. Arsen stammt aus Hadrut im Süden Bergkarabachs. Im Herbst 2020 fiel die Stadt wieder unter aserbaidschanische Kontrolle, als das autokratisch geführte Regime in Baku in einer von der Türkei unterstützten Großoffensive große Teile der Region überrollte.
Der Anfang des Endes der armenischen Geschichte der Region
„Damals sind wir nach Armenien geflohen. Aber wir sind zurückgegangen und haben uns ein Haus in Stepanakert gekauft, weil wir gedacht haben, dass zumindest der Rest von Bergkarabach sicher ist“, erinnert sich Arsen. Doch die Hoffnung war vergebens. Im Dezember des vergangenen Jahres blockierten Aserbaidschaner die einzige Landverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien. Für die eingeschlossenen Menschen begann eine Zeit bitterer Not.
Am Dienstag vergangener Woche eskaliert der Konflikt erneut. Die aserbaidschanische Armee greift mit Kampfjets und heftigem Artilleriefeuer an. Zahlreiche Menschen, Zivilisten wie Soldaten, sterben oder werden verwundet. „Wir haben die ganze Zeit im Bunker gesessen, es war laut, kalt, wir hatten kein Wasser und kein Brot“, erzählt Arsen. Der Übermacht können die armenischen Verteidiger nichts entgegensetzen. Einen Tag später rufen die Behörden Bergkarabachs einen Waffenstillstand aus, kurze Zeit später verkündet Aserbaidschans Diktator Ilham Alijew triumphierend den Sieg.
Es ist der Anfang des Endes der armenischen Geschichte der Region. Arsen ist mit seiner Familie und der seines Bruders geflohen. Von Stepanakert bis zur Grenze sind es nur fünfzig Kilometer. Dafür haben sie einen ganzen Tag gebraucht, so voll ist es auf den Straßen nach Armenien. „Alle, die Autos besitzen, haben sich auf den Weg gemacht.“ Ob er glaube, jemals wieder nach Bergkarabach zurückkehren zu können? Arsen schluckt, schüttelt langsam den Kopf.
Tanklager explodiert, über 100 Menschen sterben, es gibt Hunderte Verletzte
Am Montagabend trifft Bergkarabach eine weitere Katastrophe. Vor einem Tanklager, in dem Benzin ausgegeben wird, versammeln sich viele Menschen, die raus wollen aus Bergkarabach. Aus ungeklärter Ursache kommt es zu einer gewaltigen Explosion. Nach Angaben der Behörden Bergkarabachs sterben mehr als 100 Menschen, Hunderte weitere werden zum Teil schwer verletzt.
Über Kornidzor wummern am Tag darauf immer wieder Helikopter. Mit ihnen werden die Verletzten der Explosionskatastrophe ausgeflogen und in Krankenhäuser in Armenien gebracht. In den Krankenhäusern in Bergkarabach gibt es wegen der Blockade keine Medikamente mehr. Das Rote Kreuz hat an der Grenze Zelte aufgebaut. Hier können sich Flüchtlinge melden, die ihre Angehörigen vermissen. Es sind viele. In den Wirren des 24-Stunden-Krieges und der Tage darauf sind Familien auseinandergerissen worden.
Arkadi, 63, hat es mit seinen Angehörigen herausgeschafft. Sie sind zu zehnt. Seine beiden kleinen Enkelkinder Madeleine und Rudolph sitzen lächelnd neben ihm auf einem Betonklotz am Rande der Straße, die beiden haben Lutscher im Mund. „Die Kinder haben sich beruhigt“, sagt Arkadi. Die aserbaidschanischen Soldaten hätten sie problemlos herausgelassen, lediglich Papiere und die Kofferräume ihrer beiden Autos überprüft.
Aserbaidschan: Etliche Kriegsverbrechen werden bekannt
Aber das Misstrauen und die Angst vor Massakern sitzen tief bei allen, die hier ankommen. Die aserbaidschanische Regierung hat zwar verkündet, man werde die armenischen Bewohner Bergkarabachs integrieren und ihnen kein Leid zufügen. Es ist aber die gleiche Regierung, deren Staatspropaganda Armenier als „Ungeziefer“ bezeichnet hat. „In einigen Dörfern haben die Aserbaidschaner alten Frauen die Kehlen durchgeschnitten“, erzählt Arkadi, ohne das belegen zu können. Als der Krieg vor drei Jahren tobte, wurden danach etliche Kriegsverbrechen öffentlich.
Arkadi schiebt sein rechtes Hosenbein hoch, klopft auf das Plastik seiner Prothese. „Mein Bein habe ich 1992 im Krieg verloren. Eine Mine“, sagt er. Alle Erwachsenen, die in diesen Tagen aus Bergkarabach fliehen, können von persönlichen Tragödien aus den vergangenen dreißig Jahren berichten, von getöteten Angehörigen, von Verletzungen, Zerstörungen, Flucht und Vertreibung.
Albina: „Ich bin 1992, 2016 und 2020 geflohen. Jetzt ist es das letzte Mal“
Rund siebzig Kilometer entfernt von Kornidzor liegt die Kleinstadt Goris, ein verschlafenes Nest. In diesen Tagen ist sie voller Flüchtlinge. Alle Hotels sind ausgebucht. Vor einem Verwaltungsgebäude auf dem Platz der Republik stehen Hunderte Menschen. Hier werden sie registriert und erhalten Informationen, wie es für sie weitergeht. Albina, 67, ist mit ihrer Familie aus Martakert im Nordosten Bergkarabachs geflohen. Die Stadt sei innerhalb eines Tages zu einer Geisterstadt geworden, erzählt die Rentnerin.
„Ich bin schon 1992, 2016 und 2020 geflohen. Jetzt ist es das letzte Mal“, sagt sie. Allein in Martakert habe es bei den jüngsten aserbaidschanischen Angriffen über 260 Tote gegeben. „Sie haben unsere Verwandten, unsere Söhne umgebracht. Das ist ein Feind, mit dem man nicht leben kann.“ Auf ihrem Arm trägt sie Daniel, ihren Enkelsohn. Er ist im vergangenen Dezember geboren worden, direkt vor dem Beginn der Blockade. „Mit der haben sie einen psychischen Genozid gemacht“, sagt sie. Sie ist wütend. „Die Welt war blind und stumm, und jetzt ist es zu spät.“
In Martakert, erzählt Albina, hatten sie ein Haus mit einem großen Garten. Sie zitiert einen armenischen Dichter: „Ein Vogel, der ein Nest baut, erinnert sich an jeden Zweig.“ Sie hätten alles zurückgelassen. Sie wolle nun mit der Familie nach Etschmiadsin nahe der armenischen Hauptstadt Eriwan. Da gebe es Dörfer, wo sie vielleicht Arbeit in der Landwirtschaft finden könnten. Bis zum Mittwochmorgen haben rund 53.000 Armenier Bergkarabach verlassen. Ein Drittel der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach. Und der Exodus geht weiter.
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