Rom. Giorgia Meloni und ihre Partei versprachen, die „illegale Migration zu bekämpfen“. Doch ihre Wahlslogans sind leere Worte geblieben.
Die Skepsis unter den 6.300 Einwohnern Lampedusas ist groß. „Man hat uns versprochen, dass auf der Insel weder ein neue Flüchtlingseinrichtung noch ein Zeltlager errichtet werden, doch wir sind misstrauisch: Zu viele Versprechen sind bisher nicht eingehalten worden“, klagt Giacomo Sferlazzo (43). Seit dem Wochenende führt der Musiker und Öko-Aktivist den Protest der Einwohner Lampedusas gegen die große Anzahl von Migranten, die die Insel erreichen. 12.000 Menschen sind in wenigen Tagen auf dem kleinen Eiland zwischen Sizilien und Tunesien eingetroffen, das sind doppelt so viele wie die lokale Bevölkerung.
Bei der Ankunft von Premierministerin Giorgia Meloni und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen auf Lampedusa am Sonntag zerriss Sferlazzo demonstrativ vor den TV-Kameras seine Wahlkarte. „Schluss, Lampedusa gehört uns und nicht der EU!“, skandierten Sferlazzo und mehrere Demonstranten. Lampedusa dürfe nicht zu einem „zweiten Lesbos“ werden, ein Flüchtlingslager unter freiem Himmel, ein von der EU vergessener Außenposten, der nicht mehr vom Tourismus lebt, sondern von den Hilfsgeldern für die Unterbringung von Migranten.
Italien: Meloni bekommt den Protest zu spüren
Nach den Massenankünften der vergangenen Tage bekommt Italiens Premierministerin Meloni harten Protest zu spüren. Dutzende Anrainer blockierten ihren Konvoi auf dem Weg vom Flughafen zur Flüchtlingseinrichtung der Insel. Dabei kam es zu spannungsgeladenen Momenten. Die Demonstranten verlangten, mit Meloni zu sprechen. Die Regierungschefin stieg aus dem Auto aus und versprach den Protestlern, dass sie alles Erdenkliche unternehmen werde, um die vielen Migranten schwer belastete Insel zu unterstützen. Daraufhin entschlossen sich die Demonstranten, die Straße zu räumen.
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Für Meloni sind die steigenden Zahlen von Migranten und die heftigen Proteste auf Lampedusa ein schwerer Imageschlag. Noch vor einem Jahr hatten 64 Prozent der Wählerschaft der Insel für die von Melonis Partei unterstützte Mitte-rechts-Kandidatin Stefania Craxi, Tochter des langjährigen Expremiers und Sozialistenchefs Bettino Craxi, gestimmt und zwar in der Hoffnung auf einen Stopp der Migrantenankünfte.
Melonis Rechtskoalition hatte 2022 mit 44 Prozent der Stimmen gewonnen
Ein Jahr ist seit den Parlamentswahlen am 25. September vergangen, die Melonis Rechtskoalition mit 44 Prozent der Stimmen gewonnen hatte, was für eine bequeme Mehrheit im Parlament reichte. Ihre Partei Fratelli d’Italia schaffte es allein auf 26 Prozent der Stimmen. Die 46-jährige Rechtspopulistin hatte vor allem dank ihres Versprechens die Parlamentswahlen gewonnen, die illegale Migration zu „bekämpfen“. Die Wähler vertrauten darauf, auch weil Meloni den Ex-Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini als engsten Verbündeten neben sich hatte, der mit seiner umstrittenen „Politik der geschlossenen Häfen“ 2018 und 2019 die Migrantenankünfte stark bremsen konnte.
Doch ein Jahr nach dem Wahlerfolg ist die Bilanz der seit Oktober amtierenden Rechtsregierung für die Italiener in Sachen Migration enttäuschend. Seitdem Meloni regiert, verdoppelte sich die Zahl der Migrantenankünfte sogar. Fast 130.000 Migranten sind seit Jahresbeginn nach Seefahrten in Italien eingetroffen, befürchtet wird, dass es bis Ende des Jahres über 200.000 sein werden, so viele wie noch nie. Melonis Ansehen als entschlossene Bekämpferin der Migration ist schwer angekratzt.
Melonis Wahlslogans sind leere Worte geblieben
Nach dem Rausch des Wahlerfolgs ist die Populistin mit der harten Realität des Regierens konfrontiert. Im Wahlkampf vor einem Jahr hatte sie eine „Seeblockade“ in Aussicht gestellt, um die Abfahrten aus Tunesien und Libyen zu stoppen. Doch die Wahlslogans sind leere Worte geblieben: Denn auch als Regierungschefin hat die erste Premierministerin in der italienischen Geschichte kaum Einfluss darauf, wie viele Menschen sich in Nordafrika auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer machen.
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Meloni, die bei der italienischen Wählerschaft mit ihren EU-kritischen Tönen bekannt war, ist jetzt ganz auf die EU angewiesen. Denn nur wenn von der Leyen die Migration klar als gesamteuropäisches Problem benennt, mit dem Italien nicht alleingelassen werden dürfe, kann sich Meloni politisch retten. Die Premierministerin steht nämlich zunehmend unter Druck: Sie braucht dringend Erfolge bei der rechten Basis. Das ist nicht einfach, denn mehrere Herausforderungen stehen ihr in diesem Herbst bevor.
Meloni will das Land auf Wachstumskurs halten, hat aber kaum Spielraum
Derzeit arbeitet Meloni an ihrem ersten Haushalt für das kommende Jahr. Die Spielräume sind eng. Die Wirtschaft ist im zweiten Quartal überraschend um 0,3 Prozent geschrumpft, soll aber trotzdem im Gesamtjahr um ein Prozent wachsen. Für 2024 wird ein Plus von 1,1 Prozent prognostiziert. Meloni sucht nach dem passenden Wirtschaftsprogramm, um das Land trotz Inflation, hoher Energiepreise und sinkender Industrieproduktion auf Wachstumskurs zu halten.
Die Regierungschefin befürchtet auch Proteste, seitdem sie zahlreichen Familien das Bürgergeld gestrichen hat. Das italienische Haushaltsdefizit könnte in diesem Jahr 6,5 bis 7 Prozent des Bruttoinlandprodukts erreichen. Dass der Regierung die Ausarbeitung des Haushaltsplans für 2024 schwerfällt, ist kein Geheimnis. Nicht zuletzt die hohen Kosten der großzügigen Renovierungssubventionen für Energieinvestitionen in Häusern und Wohnungen schlagen sich nieder. Die gute Nachricht ist, dass Italien eine so hohe Beschäftigungsquote wie noch nie hat. Das ist unter anderem dem Tourismus zu verdanken, der beispiellos boomt. Ein Trost für Meloni, die sich auf einen heißen und unbequemen Herbst gefasst machen muss.
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