Charkiw. In Charkiw wurden U-Bahn-Stationen umgebaut, um den Kindern Schulunterricht zu ermöglichen. Überirdisch wäre dies noch zu gefährlich.
Die Kinder schauen gespannt auf den Bildschirm, auf dem eine Comicfigur etwas erklärt. Anastasia Prowotorowa fordert sie auf, die Zahlen nachzusprechen. Draußen auf dem mit Neonlichtern erleuchteten Gang vor dem Klassenzimmer verschwimmt der Chor der hellen Stimmen mit dem Geräusch der U-Bahn, die einige Meter tiefer einfährt. Das neue Schuljahr hat in der Ukraine begonnen. In der Millionenstadt Charkiw haben die Behörden die Schüler im Untergrund in Sicherheit gebracht.
Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar vergangenen Jahres hat auch das Schulleben völlig durcheinandergebracht. Hunderttausende Kinder und Jugendliche mussten mit ihren Eltern fliehen. Die, die ihre Dörfer und Städte in den umkämpften Gebieten nicht verlassen konnten, verbrachten viel Zeit in Luftschutzkellern. Die Schulen wurden geschlossen, weil die ständigen russischen Bombardements keinen normalen Unterricht zuließen. Wie schon in der Corona-Pandemie konnte der Unterricht vielerorts nur online stattfinden. So war es auch in Charkiw im Nordosten der Ukraine.
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Russische Soldaten dringen nach dem Beginn der Invasion in die zweitgrößte Stadt der Ukraine ein. Es kommt zu Straßenkämpfen. Zwei Drittel der rund 1,5 Millionen Einwohner fliehen aus der Stadt. Als die Russen nach wenigen Tagen aus Charkiw vertrieben werden, fangen sie an, die Stadt zu bombardieren. Fast eintausend Gebäude werden beschädigt, Hunderte Menschen sterben. Erst im September vergangenen Jahres endet der Horror, als die ukrainische Gegenoffensive die russischen Streitkräfte so weit von der Stadt wegdrängt, dass die feindliche Artillerie sie nicht mehr erreicht.
Ukraine: Luftalarm gehört zum Alltag
Mittlerweile hat sich das Leben in der Stadt wieder weitgehend normalisiert. Geschäfte, Cafés, Theater und Restaurants sind geöffnet. Doch noch immer ist die Gefahr nicht ganz gebannt. Anfang August wird Charkiw von modifizierten russischen S-300-Luftabwehrraketen getroffen. Der Luftalarm ist zu einem Alltagsgeräusch geworden. Deshalb unterrichten die 32-jährige Lehrerin Anastasia Prowotorowa und ihre Kollegen unter der Oberfläche der Stadt.
Die U-Bahnstation „Universität“ liegt direkt am zentralen „Platz der Freiheit“. Gut 40 Stufen führen hinab. Unten am Eingang wachen Polizisten und Mitarbeiter der Schulbehörde vor einer blau-gelben Tür. Hinter der Tür geht es noch einige Treppen herunter, dorthin, wo noch im vergangenen Jahr die Empore der U-Bahnstation war. Jetzt ist der marmorgeflieste Gang flankiert von Fenstern auf der einen Seite, von Glaskästen auf der anderen. Die Kästen sind die Klassenzimmer.
In dieser U-Bahnstation werden die jüngsten Schülerinnen und Schüler unterrichtet: Erst- und Zweitklässler. In den Regalen der Klassenzimmer stehen Spiele, auf dem Boden liegen bunte knautschige Sitzkissen und Matten. An den Wänden hängen Regenbögen, Sonnen oder Blumen, darüber die Porträts ukrainischer Schriftsteller und Künstler. In jedem der Räume steht ein Flachbildfernseher neben der Tafel. Jedes Klassenzimmer hat zwei Türen, damit die Kinder, wenn nötig, schnell in Sicherheit gebracht werden können.
Krieg: „Wir wollen nicht, dass noch mehr Kinder sterben“
„Wir haben hier die Bedingungen, um einen sicheren Schulbetrieb zu gewährleisten“, sagt Walery Schepel, Vizedirektor der Bildungsabteilung der Stadtverwaltung. Sie wollen nicht, dass noch mehr Kinder sterben. Über 500 sind seit dem Beginn des russischen Überfalls in der Ukraine der Gewalt des Krieges zum Opfer gefallen. Am Donnerstag vermelden die ukrainischen Behörden den Tod eines sechsjährigen Jungen in einem Dorf in der Region Cherson.
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Hier in dieser U-Bahnstation in Charkiw haben sie sieben Klassenzimmer eingebaut, dazu eine Krankenstation. 60 Klassen aus 19 Schulen sind in den Untergrund gezogen. Rund 1000 Kinder und Jugendliche bis hin zur Oberstufe werden in fünf umgebauten Stationen unterrichtet.
„Seit dem Beginn des Schuljahres entscheiden sich immer mehr Eltern, ihre Kinder in solche Schulen zu schicken“, sagt Schepel. Die Alternative ist der Online-Unterricht. Der Umbau der Stationen sei eine Herausforderung gewesen, erklärt der Bildungsexperte. Die Zeit von der Entscheidung, in den Untergrund zu ziehen, bis zur Eröffnung der Schulen sei knapp, der Einbau der lärmgeschützten Fenster und Türen oder die Installation der Belüftung kompliziert gewesen.
Schule: Psychologen sitzen dem Unterricht bei
In der Klasse 1m sitzen 17 Kinder. Vorne unterrichtet Lehrerin Prowotorowa. Von einem Tisch hinten beobachtet Tetjana Wasilschenko die Kinder und macht sich immer wieder Notizen. Sie ist Psychologin. Es ist in dieser Untergrundschule Standard, dass Psychologen dem Unterricht beiwohnen. Dazu arbeiten in jeder Klasse zwei sogenannte Tutorinnen, Frauen, die die Kinder im Schulbus begleiten, sie unterstützen, wenn sie Lernschwierigkeiten haben, oder mit ihnen zur Toilette gehen. Es ist eine Personalausstattung, von der deutsche Schulen nur träumen können.
„Die Kinder gehen gerade durch einen Anpassungsprozess“, erklärt Wasilschenko. Der Unterricht in der U-Bahnstation, der Krieg, all das beeinflusse sie. „Aber sie sind sehr neugierig und ich kann keine Anzeichen erkennen, dass sie zu sehr unter Stress stehen.“ Allenfalls seien die Kinder vielleicht ein bisschen müde. „Die Schule beginnt hier sehr früh um neun Uhr morgens.“
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Vor dem Unterrichtsbeginn legen die Kinder immer eine Schweigeminute ein. „Das machen wir, um der Toten des Krieges zu gedenken“, sagt Lehrerin Prowotorowa. Danach singen sie gemeinsam die ukrainische Nationalhymne. Die Kinder, selbst die Kleinen, glaubt die Lehrerin, verstünden, was Krieg bedeute. Sie versuche aber, das Thema im Unterricht zu vermeiden, damit sich die Kinder auf den Lernstoff konzentrieren können.
Ukraine: Vor Unterrichtsbeginn wird eine Schweigeminute eingelegt
Gegen elf Uhr bringen Helferinnen kleine Essenspakete. Es ist Zeit für eine Zwischenmahlzeit. Die Kinder laufen Hand in Hand in kleinen Gruppen zu einem Waschraum. Das geschieht leise und unaufgeregt, es scheint, als hätten sich die Erstklässler nach nur zwei Wochen bereits in der ungewöhnlichen Umgebung eingelebt. Nach dem Essen steht Bewegung auf dem Stundenplan. Die Kleinen hüpfen und klatschen und fangen Bälle, die sie sich zuwerfen.
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Sie können aus Kapazitätsgründen nicht jeden Tag hier unterrichtet werden. Montags, mittwochs und freitags sind die Erstklässler hier, an den anderen Tagen haben sie Online-Klassen. Wenn sie digitalen Unterricht haben, sitzen in den Klassenräumen die Zweitklässler. „Aber es ist sehr wichtig, dass sie Präsenzunterricht haben“, betont die Lehrerin, „diese Kinder sind die Zukunft unseres Landes.“
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Die Eltern sagten ihr, sie seien froh, dass ihre Kinder hierhin kommen dürften. Und die Kinder kämen gerne. Prowotorowa lacht: „Eine Mutter hat mir erzählt, dass ihr Kind kürzlich morgens aufgestanden ist, sich angezogen und fertig für den Schulbus gemacht hat. Dabei war es Sonnabend.“ Zweimal haben sie bislang den Ernstfall geprobt, die Evakuierung der Schule. Es ist reibungslos gelaufen.
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