Berlin. Lehrerpräsident Stefan Düll erklärt im Gespräch, warum eine harte Auswahl im Referendariat gut ist – und wo Minister Lindner irrt.

Er ist Deutschlands neuer Oberlehrer: Stefan Düll ist seit Juli neuer Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Im Interview mit unserer Redaktion erzählt er, warum das deutsche Bildungssystem besser ist als sein Ruf, das Referendariat das härteste Assessment Center ist, und Künstliche Intelligenz an Schulen einen festen Platz haben wird.

Herr Düll, ist Lehrer eigentlich noch ein Traumberuf?

Stefan Düll: Definitiv ja. Es ist ein wunderbarer Beruf. Ich bin 1992 ins Referendariat gegangen, und es macht mir immer noch Freude, an der Schule tätig zu sein. Es ist schön, jeden Tag mit jungen Menschen zusammen zu sein.

Den Traumberuf wollen aber offenbar immer weniger Menschen machen. Nur rund jeder Zweite, der das Studium anfängt, schließt am Ende das Referendariat ab. Woran liegt das?

Düll: Das Referendariat ist ein Assessment Center. Und zwar in einer Intensität, wie man das in wenigen Berufen hat. Und das ist auch gar nicht schlecht, dass nicht jeder oder jede am Ende wirklich Lehrer wird, sondern dass manche auch merken, das ist nichts für sie. Das Referendariat ist der letzte Punkt, um das noch mal zu hinterfragen. Aber wir reden auch mit jungen Kollegen und Kolleginnen, die Selbstzweifel haben, die die eigenen Ansprüche zu hoch setzen, und wir ermutigen sie, weiterzumachen.

Aber schon die Zahl Lehramtsstudierenden geht zurück…

Düll: Die Bewegung bei den Zahlen der Studienanfänger ist wellenförmig, und die jungen Menschen reagieren auch auf das, was sie in den Medien wahrnehmen. Und im Moment hört man vor allem: Alles ganz schlimm. Aber der Beruf ist ein schöner Beruf. Und übrigens sehr gut dafür geeignet, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen – auch wenn wir unsere Arbeit nicht komplett ins Homeoffice verlagern können, wie das in vielen anderen akademischen Berufen möglich ist.

Stefan Düll ist der neue Präsident des Deutschen Lehrerverbands.
Stefan Düll ist der neue Präsident des Deutschen Lehrerverbands.

Dass Deutschland Lehrkräfte fehlen, ist klar. Aber zur Frage wie viele das sind, gibt es sehr unterschiedliche Zahlen. Wovon gehen Sie denn aus?

Düll: Eine exakte Zahl ist schwierig. Heutige Zahlen sind morgen schon überholt. Und je nach Schulart sieht es unterschiedlich aus. Klar ist, ein Mangel ist da und er nimmt vielfach noch zu. Die KMK geht von 24.000 fehlenden Lehrkräften bis zum Schuljahr 2035/36 aus, andere Berechnungen von mehr als doppelt so viel. Zudem gibt es sogenannte Mangelfächer.

Wenn sich die Schülerzahl so entwickelt, wie wir das erwarten, dann kommen wir bei den Grundschulen 2025, 2026 schon wieder in einen Bereich hinein, wo wir ein Überangebot haben. Diese Lehrkräfte können wir dann allerdings gut an den Mittelschulen brauchen, die werden noch auf längere Sicht einen Mangel haben. Und auf Gymnasien und Realschulen kommt der Mangel je nach Bundesland erst noch zu.

Es hängt auch nicht nur von Schülerzahlen ab. Jedes neue Förderprogramm wie die Corona-Aufhol-Maßnahmen schafft einen Bedarf an zusätzlicher Kapazität. Und dazu kommen unplanbare Situationen, wie etwa 200.000 ukrainische Kinder, die jetzt hier zur Schule gehen.

Eigentlich müsste jede Schule 110 Prozent ihres Bedarfs abdecken können, besser noch: 130 Prozent. Dann sind Schulen für alle Eventualitäten vorbereitet; und ansonsten werden Klassen geteilt und individuelle Förderung betrieben. Die Erfahrung zeigt jedenfalls, dass die KMK meistens zu vorsichtig kalkuliert. Wenn die Kultusministerien sagen, es fehlen x Lehrer, dann muss man da 10 bis 20 Prozent locker draufrechnen, wenn nicht sogar mehr.

Sachsen-Anhalt testet jetzt die Vier-Tage-Woche an Schulen, um mit dem Mangel umzugehen…

Düll: Richtig, mit Distanzunterricht am fünften Tag, und Sachsen setzt jetzt auch auf E-Learning. Der dortige Kultusminister ist fest davon überzeugt, dass das ein guter Weg ist. Ich habe da meine Zweifel. Corona hat gezeigt: Nichts geht über Präsenzunterricht. Das ist der verzweifelte Versuch der Politik, Probleme, die sie selber durch Kurzsichtigkeit geschaffen hat, zu lösen. Die Kultusminister stehen unter einem brutalen Druck, sie müssen sich etwas einfallen lassen. Ein bisschen Schaufensterpolitik ist da wohl auch dabei.

Andere Kultusminister wollen die Teilzeitquote unter Lehrkräften senken. Ist die zu hoch?

Düll: Sie ist hoch, aber nicht zu hoch. Wir haben Menschen in unserem Beruf, die sich auch deshalb dafür entschieden haben, weil es relativ leicht möglich ist, in Teilzeit zu gehen mit einem großen Homeoffice-Anteil. Das war für viele mit ausschlaggebend, so ehrlich muss man sein. Aber sie leisten auch viel über das reine Unterrichtsmaß hinaus, denken wir nur an die Konferenzen, Meetings, Fahrten etc.

Wenn wir wollen, dass der Beruf attraktiver wird, wäre es die völlig falsche Richtung, die Möglichkeiten für Teilzeit einzuschränken. Juristisch ist das zwar möglich, aber absolut kontraproduktiv für die Motivation – übrigens auch für die Motivation, Lehrkraft werden zu wollen.

Deutschland ist immer noch ein Land, in dem der Bildungserfolg von Kindern sehr eng verknüpft ist mit dem Elternhaus. Was muss passieren, um das zu ändern?

Düll: Wir haben etwas ganz Großartiges in unserem Land, wir haben ein kostenfreies schulisches Bildungswesen und kostenfreie Hochschulen. Das ist auch eine Erfolgsgeschichte. Die Übertrittsquote auf die Gymnasien ist im Vergleich zu früher deutlich gestiegen, und das Gymnasium ist nicht der einzige Weg an die Hochschule. Es hat sich sehr viel getan. Aber es kommen auch regelmäßig neue Menschen ins Land, die zum Teil noch kein Deutsch können und damit auch schlechteren Zugang zu Bildung haben.

Klingt, als sehen Sie da gar nicht so ein großes Problem. Untersuchungen zu Bildung wie der IQB Bildungsmonitor oder Daten der OECD lesen sich da nicht so optimistisch…

Düll: Diese Untersuchungen sehe ich kritisch, zumal sie Bildungserfolg am Gymnasialabitur messen. Ja, es gibt junge Menschen, deren Potenziale nicht gleich entdeckt werden, und daran müssen wir weiterarbeiten. Trotzdem ist die Situation besser als noch vor 30 Jahren. Und bemessen wir Erfolg daran, ob ein Mensch ein zufriedenes gut auskömmliches Leben führen kann. Der Weg dorthin führt über viele verschiedene Schularten. Übrigens haben wir eine deutlich geringere Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zu Ländern, die in besagten Studien besser abschneiden.

Das Mittel der Ampel gegen Bildungsungleichheit soll „Startchancen-Programm“ heißen, tausende Schulen sollen damit unterstützt werden. Wird das einen echten Unterschied machen?

Düll: Es ist ein möglicher Weg. Ganz wesentlich ist, dass man unabhängig von diesen Geldinvestitionen den Lehrkräften Zeit gibt für das einzelne Kind. Der berufliche Alltag ist aber so anspruchsvoll und mit so viel Zusatzarbeit angefüllt, dass das nicht immer gelingt. Die Förderprogramme sind durchaus vernünftig.

Das deutsche Schulsystem ist „auch eine Erfolgsgeschichte“, sagt Lehrerpräsident Stefan Düll.
Das deutsche Schulsystem ist „auch eine Erfolgsgeschichte“, sagt Lehrerpräsident Stefan Düll. © Shutterstock/Monkey Business Images | Monkey Business Images

Wie finden Sie das eigentlich, wenn Finanzminister Christian Lindner sagt, ein Teil der Kinder, die in Deutschland arm sind, brauchen nicht mehr Geld, sondern bessere Schulen?

Düll: Er beschreibt zudem, dass Kinderarmut nach Deutschland auch einwandert. Wenn man hier finanzielle Mittel locker macht, sollten die unmittelbar der Bildung der Kinder zugutekommen. Das ist natürlich immer schwierig, wenn ich das Geld einer Familie als Ganzes gebe. Und die Schulen brauchen so oder so einen Doppelwumms von Bund und Ländern. Es freut mich, wenn Herr Lindner hier vorangehen will.

Sie können Lindners Argumentation also nachvollziehen.

Düll: Als Beschreibung der Sachlage ja, in der Schlussfolgerung nicht. Es ändert ja nichts: Diese Kinder sind da und diese Kinder haben ein Recht darauf, die bestmögliche Bildung zu bekommen, die unser Land bieten kann. Also muss man sich was einfallen lassen.

Das wird zum Teil über Geld direkt an die Familien gehen, aber zum anderen Teil auch über Geld für die unmittelbare schulische Förderung. Ich muss ja Lehrkräfte bezahlen, Personal in der Schulsozialarbeit oder der Jugendarbeit. Wir brauchen beides. Und es muss auch der Familie als Ganzes gut gehen, damit es dem Kind gut geht und es seine Chancen nutzen kann.

ChatGPT gezeigt, was Künstliche Intelligenz jetzt schon kann und was noch kommt. Sind die Schulen darauf vorbereitet?

Düll: Jein. Schule ist auf neue aktuelle Entwicklungen nie vorbereitet, weil die eben neu sind. Die Freischaltung von ChatGPT hat vielen zum ersten Mal gezeigt, dass KI auch für Schule klar relevant ist. Meine Kolleginnen und Kollegen reagieren darauf natürlich – die einen haben das vielleicht unmittelbar euphorisch getan, die anderen mit einer gewissen kritischen Distanz erst nach einigen Wochen. Die Kollegen, die bei uns Deutsch unterrichten, arbeiten schon damit.

Wie das denn?

Düll: Sie lassen die Schüler und Schülerinnen zum Beispiel Gedichte damit schreiben. Die Aufgabe ist dann zum Beispiel, schreib ein Barock-Gedicht mit diesem Thema, mit diesen Worten. Und dann wird das Ergebnis verglichen mit dem Original-Gryphius-Gedicht. Oder ein Bericht, oder eine Rede… dafür muss man den jungen Menschen ja auch erstmal beibringen, was einen guten Text ausmacht. Den Versuch, meine diesjährige Abiturrede mit ChatGPT zu schreiben, habe ich wieder aufgegeben. Das ständige Nacharbeiten mit neuen Aufträgen an die KI war mir irgendwann zu blöd. Ich muss mich da noch mehr einarbeiten.

KI hat also dauerhaft einen Platz an der Schule?

Düll: An jeder Schule. Mein Vorgänger Heinz-Peter Meidinger hat es in einem der letzten Interviews gesagt: Wir können Schule nicht von der digitalen Welt abtrennen. Um sie herum ist sie ja ohnehin. Wir dürfen auch nicht nur warnen. Wir müssen auch mit einer gewissen Zuversicht rangehen, den Kindern die Chancen zeigen und es auch im Unterricht anwenden.

Wie digitalisiert sind die Schulen in Deutschland nach der Corona-Pandemie?

Düll: Es hat einen riesigen Sprung gegeben. Die Pandemie hat bei den Kompetenzen von Schülern und Lehrkräften viel vorangebracht. Alle haben aufgerüstet. Aber die Pandemie hat auch gezeigt, wie absurd der Zustand vorher war: Ich hatte hier Dienst-Laptops ohne Kamera, weil man das für ganz gefährlich hielt, als die angeschafft wurden. Und dann wurden sie mitten in der Pandemie ersetzt – und hatten wieder keine Kamera! Weil der Vertrag mit dem Ausrüster so war. Ich habe die Hoffnung, dass bei der nächsten Ausschreibung Kameras verbaut sind…

Der Digitalpakt 2 muss jetzt kommen. Wir haben sonst absehbar ausgenudelte Geräte rumstehen, wir haben Projekte, die in der Luft hängen. Ich erwarte, dass Bund und Länder gemeinsam die Nachfolge-Finanzierung garantieren.

Was ist Ihr persönliches Ziel als Verbandspräsident?

Düll: Schule wieder als einen positiven Arbeits- und Lernort in die Diskussion bringen. Nicht nur die Defizite zu betrachten, sondern auch die riesigen Chancen, die in unserem Schulwesen stecken. Bildung ist das nachhaltigste Produkt, das wir herstellen. Das bleibt uns ein Leben lang. Darauf können wir aufbauen und darauf können wir unser Land gründen. Geben wir ihm die notwendigen Menschen und Mittel dafür und Wertschätzung für die an den Schulen geleistete Arbeit.