Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat sich den Umbau der Tierhaltung in Deutschland auf die Fahne geschrieben. Aber es geht schleppend voran.
Wenn der Bauer ruft – gibt’s Brötchen. „Komm her, komm!“ Hans-Gerd Eyberg betont seine Worte sehr besonders, es ist so ein spezieller Singsang, schwer nachzuahmen. Freundlich, fast liebevoll, auf jeden Fall lockend. Und tatsächlich, da kommen seine Rinder hinter der Kuppe des Hügels hervor und eilen den Hang hinab. Sie fressen dem Bauern aus der Hand. Er tätschelt ihnen den Hals.
Die Rinder, sagt Hans-Gerd Eyberg, würden immer die Wiese wählen und nicht den Stall. Genauso wie die Hühner, die ein nervöses Tamtam veranstalten und schlechter fressen, wenn sie länger eingesperrt werden. Oder die Gänse, die nur deshalb über Nacht hinter verschlossene Türen kommen, „weil wir sonst den Fuchs kugelrund füttern würden“.
Hans-Gerd Eyberg ist Vollblut-Landwirt. In sechster Generation bewirtschaftet er das „Gut Schiff“, einen denkmalgeschützten Bauernhof in Bergisch Gladbach Herrenstrunden. Von Massentierhaltung und eingepferchten Tieren hält Eyberg nichts. Aber: Allein vom Verkauf von Fleisch könnte er so nicht leben. Er veranstaltet noch Führungen, Kindergeburtstage oder Hochzeitsfeste auf seinem Hof.
Vermarktung direkt ab Hof
Seine Rinder kommen nur von Dezember bis April in den Stall. Weil es im deutschen Winter auf der Wiese zu nass wird. Die Tiere würden alles kaputt trampeln, und dann wäre da keine Wiese mehr zum Grasen im nächsten Frühjahr. Das Fleisch der Rinder vermarktet Eyberg genauso wie das seiner Gänse und Hühner direkt ab Hof. „Bei mir wird kein Tier geschlachtet, das nicht vorher bestellt wurde“, erklärt der Landwirt. Mindestabnahme beim Rind: Ein Achtel.
Ein Achtel Rind? „Passt in drei Schubladen eines Gefrierschranks“, sagt Eyberg. Nur Steaks gibt es bei ihm nicht, sondern von allem etwas, auch von den Knochen. Immerhin fach- und mundgerecht vom Metzger zerlegt. „So, wie der Kunde das wünscht.“ Eyberg zeigt auf ein junges Rind im Sonnenschein: „Der da wird nächste Woche geschlachtet.“ Wie traurig! „Wir leben davon, ich bin damit aufgewachsen“, sagt er. „Ich freue mich über jedes Kalb, das geboren wird. Und dann bringe ich es selbst zum Schlachthof, das sind fünf Minuten Fahrt, alles passiert kurz und schmerzlos.“
Gekauft wird überwiegend billig
Tierschützer werden an dieser Stelle einwenden, dass der Mensch als Allesfresser durchaus auf das Steak auf dem Grill oder das Hackfleisch in der Spaghettisoße verzichten könnte. Dass er Tiere nicht aufziehen müsse, nur um sie weit vor dem Erreichen ihrer natürlichen Lebenserwartung zu töten. Dass das Nutztierleben und der Gang in den Schlachthof grundsätzlich mit Leid verbunden sind. Die Bedingungen auf Gut Schiff sind ja nicht das Maß der Fleischproduktion in Deutschland. So wünschen sich die meisten Verbraucher zwar, dass die Tiere gelebt haben, die auf ihren Tellern landen. Gekauft wird dann überwiegend aber eben doch das, was möglichst billig ist.
Das soll sich ändern. Der grüne Bundes-Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat sich einen Umbau der Tierhaltung in Deutschland fest vorgenommen. Vorschläge dazu werden von der so genannten „Borchert-Kommission“ erarbeitet, auch „Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung“ genannt. Das Expertengremium wurde 2019 unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundeslandwirtschaftsministers Jochen Borchert eingerichtet – und ist aktuell wohl alles andere als zufrieden mit den tatsächlichen Plänen Özdemirs. Dessen erstes Vorhaben: Ein staatliches Siegel, mit dem die Haltungsform der Tiere auf dem Fleisch im Supermarkt kenntlich gemacht wird. Zunächst soll es für Schweinefleisch eingeführt werden.
55 Kilo Fleisch pro Jahr
Nach Angaben der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung verzehrte jeder Einwohner in Deutschland im Jahr 2021 55 Kilogramm Fleisch. Am beliebtesten war Schweinefleisch mit durchschnittlich 31 Kilogramm pro Kopf vor Geflügelfleisch (13,1) und Rindfleisch (9,4). Pro Woche macht das etwas mehr als ein Kilogramm Fleisch pro Kopf. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt die Hälfte. Für eine ausgewogene Ernährung reichten nach Ansicht der Experten 300 bis 600 Gramm Fleisch pro Woche. In den letzten zwei Jahrzehnten hatte sich der Fleischverzehr bei rund 60 Kilogramm pro Kopf pro Jahr eingependelt. Seit 2019 fällt der Durchschnittswert.
Beim Fleisch geht es aber nicht nur um eine gesunde Ernährung. Es geht auch um das Wohl der Tiere. Und es geht um unsere Umwelt und unser Klima, die durch konventionelle Massentierhaltung massiv beeinträchtigt werden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) fordert daher eine Reduzierung des Nutztierbestands in Deutschland um 50 Prozent. Ja, der Fleischkonsum geht leicht zurück. Ja, es entsteht zunehmend ein Problembewusstsein, was das Billigfleisch der Großkonzerne angeht. Und ja, vor allem junge Menschen ernähren sich deutlich häufiger vegetarisch oder gar vegan und machen so Hoffnung für die Zukunft. „Aber das ersetzt nicht politisches Handeln“, betont Ralf Bilke, Agrarreferent beim BUND NRW.
Nicht bio, aber „naturgerecht“
„Naturgerecht“, so nennt Hans-Gerd Eyberg seine Art der Tierhaltung: „Wir sind kein Biohof, aber ich muss mich nicht verstecken.“ Die Rinder, rund 40 Mutterkühe mit drei Bullen, fressen im Sommer Gras und im Winter Heu und Silage der Marke Eigenproduktion. „Bei uns gibt es kein Kraftfutter und keine Antibiotika zur Prophylaxe“, so Eyberg, „und die Tiere sind zufrieden“. Die Kälber wachsen draußen bei ihren Müttern auf. Sie leben nicht lange – aber sie leben gut. Und genug Kunden sind bereit, mehr für ihr Fleisch zu bezahlen, dafür aber zu wissen, woher es kommt.
„Das ist eine tolle Art der Tierhaltung, davon brauchen wir mehr. Auch die regionale Vermarktung ganzer Tiere ist sehr wichtig“, erklärt BUND-Experte Ralf Bilke. Weniger ist allerdings die traurige Regel. „In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl der Viehhaltungsbetriebe in NRW massiv gesunken, die Anzahl der Tiere dagegen ist mit Ausnahme des Rindviehs gestiegen.“ Das heißt: Immer weniger Betriebe halten immer mehr Tiere. Und das ist nicht gut. Für die Tiere nicht. Und für die Kulturlandschaft nicht. „Irgendwann wird es im Bergischen keine grünen Wiesen mit Kühen drauf mehr geben“, prophezeit Bilke.
Nach Angaben des Statistischen Landesamtes NRW ist die Anzahl der viehhaltenden Betriebe zwischen 2010 und 2020 um 14,9 Prozent auf 23.600 Betriebe gesunken. Die Zahl der Höfe mit Rinderhaltung ging um 22,2 Prozent zurück, Höfe mit Schweinehaltung wurden um 28,2 weniger. „In der NRW-Tierhaltung vollziehen sich regelrechte Strukturbrüche, die kaum noch zu heilen sind“, sagt Bilke. Massentierhaltung ist lukrativ, kleine Höfe wie der von Hans-Gerd Eyberg mit glücklichen Kühen sind es nicht. Und die Politik? Die tut sich landes- wie bundesweit schwer, den seit vielen Jahren angestrebten Umbau der Tierhaltung in Deutschland ernsthaft voranzutreiben.
Die Klimaschäden sind enorm
Unbedingt nötig ist er, da sind sich viele Experten einig. „Die Klimaschäden, die Antibiotikaresistenzen, der zu hohe Nitrat- und Phosphatgehalt in unserem Wasser, das Artensterben – all das steht nicht auf dem Kassenzettel des billigen Fleisches“, sagt Reinhild Benning, Landwirtin und Tierhaltungsexpertin bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Die Diskussionen zu Özdemirs Tierhaltungskennzeichnungsgesetzt laufen schleppend, vor allem die FDP blockiert die nötige Finanzierung, damit die Bauern ihre Ställe für mehr Tierwohl umbauen können. Benning hält den Landwirtschaftsminister für „nicht durchsetzungsfähig genug, um die Wende in der Tierhaltung voranzubringen.“ Überhaupt findet die Expertin der DUH sehr klare Worte für die Problematik: „Wenn wir uns das Billig-Steak von einem Rind auf den Teller legen, das nicht in Weidehaltung gelebt hat, brennt in Brasilien oder Argentinien der Wald.“
Für Soja wird Regenwald gerodet
Die Tiere hierzulande in den Großbetrieben werden mit Soja gemästet. Bei vielen Tieren in engen Ställen gibt es nun mal nicht genug Wiese zum Grasen. Größte Lieferanten des eiweißreichen Futters sind Brasilien, Argentinien und die USA. In Brasilien und Argentinien muss immer mehr Regenwald neuen Anbauflächen weichen. Das ist nicht gut fürs Klima, für die Artenvielfalt und für die indigene Bevölkerung vor Ort, die vertrieben wird, selbst nichts mehr anbauen kann und fortan möglicherweise Hunger leidet.
„Fleisch frisst Fläche“, sagt Benning. „Über ein Drittel aller Feldfrüchte weltweit landet in den Mägen von Nutztieren – allein eine Milliarde Tonnen Soja und Mais jährlich“, heißt es im „Fleischatlas 2021“ von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem BUND. Dafür wird sehr viel Ackerfläche benötigt, die so für den Anbau von Grundnahrungsmitteln wegfällt.
Weniger Fleischkonsum und faire Erzeugerpreise, und damit weniger Tiere, dafür aber in artgerechterer Haltung – so lautet die Lösung. Doch die Nahrungsmittelindustrie, von den Großbauern über die riesigen Schlachthöfe bis hin zu den Molkereien im Land, hat andere Interessen. Es waren ja die Konsumenten, die mit ihrer erhöhten Fleisch-Nachfrage die Entstehung der Massentierhaltung seit den 50er-Jahren befeuert haben, und heute fällt ihnen genauso wie der Fleischindustrie eine Verhaltensänderung schwer. Wolfgang Schleicher, Geschäftsführer des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft, sagte in „agrarheute“: „Die Fleischwirtschaft wird immer das liefern, was ihre Kundinnen und Kunden bestellen und bezahlen.“ Soll heißen: Solange die Verbraucher Billigfleisch kaufen, wird es Billigfleisch geben.
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Nicht alle sollen Veganer werden
Bundes-Landwirtschaftsminister Cem Özdemir beschrieb die Situation in der ARD-Sendung „Maischberger“ so: „Es gibt da zwei Extrempositionen. Die einen definieren Freiheit darin, dass sie 24 Stunden, sieben Tage die Woche Fleisch essen und am besten sonst nichts. Und die anderen wollen 83 Millionen Deutsche zu Veganern bekehren.“ Es selbst wolle weder das eine noch das andere, sage aber: „Aus Gründen des Klimaschutzes müssen wir runter mit dem Fleischkonsum.“
Aber wie? Die Autoren des Fleischatlas‘ 2021 schreiben: „Für uns ist es kaum nachvollziehbar, wie wenig sich ändert – trotz der seit nun fast zehn Jahren anhaltenden öffentlichen Kritik und der vielen Skandale.“ Als ein möglicher Ansatz wird die Reduzierung der Mehrwertsteuer für pflanzliche Produkte wie Hafermilch diskutiert. So könnte ein Anreiz geschaffen werden für eine pflanzenbasierte Ernährung. Ein weiterer wäre, die Tierhaltung an die Fläche zu binden. Also nur eine bestimmte Anzahl an Tieren auf einer bestimmten Fläche zuzulassen, so berechnet, dass Ernährung der Tiere und Kapazitäten für den Dung auf dieser Fläche gegeben sind.
Weniger Tiere auf mehr Wiese
BUND-Experte Ralf Bilke wünscht sich, „dass das Land zum Erhalt und zur Förderung von artenreichem Grünland, zur Stärkung des Tierschutzes und zur Sicherung bäuerlich geführter Milchviehbetriebe qualitativ hochwertige Programme zur Weidehaltung und zur Vermarktung von Produkten aus Weidehaltung entwickelt und umsetzt“. Seiner Ansicht nach wäre eine „deutliche Ausweitung des Ökolandbaus und der extensiven Weidehaltung“ nötig, also weniger Tiere auf mehr Wiese, so wie bei Hans-Gerd Eyberg.
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Dafür müsste es aber eine wirtschaftliche Perspektive geben. Land und Kommunen könnten mit Förderungen nachhelfen, indem sie etwa so erzeugte Nahrungsmittel regional in Kantinen in Universitäten, Schulen oder Heimen verwendeten. „Die öffentliche Hand hat Vorbildfunktion“, sagt Bilke: „Und gerade in Kitas und Schulen wird der Geschmack einer ganzen Generation maßgeblich mitgeprägt. Wer hier ein zu großen Teilen vegetarisch und schmackhaft zubereitetes Essen kennenlernt, wird auch später dafür offen sein.“
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