Essen. Zwei ehemalige Heimkinder erzählen von Pillen, Spritzen, Gewalt und Missbrauch. NRW prüft Arzneiversuche in Kinderheimen in der Nachkriegszeit.
„Ich wurde mit Tabletten ruhiggestellt. Die waren wie Drogen. Davon habe ich Selbstmordgedanken und Wahnvorstellungen bekommen. Jeden Tag saß ich hinter den vergitterten Fenstern und wollte herausspringen“, erinnert sich Ralf Aust. Er senkt den Blick. Wie sich sein Leid in der Kindheit anfühlte, kann der 67-Jährige kaum in Worte fassen. Mit 11 Jahren kam er in eine katholische Einrichtung in Essen: Das Franz-Sales-Haus.
Die damalige Diagnose: Schwachsinn. Dreimal am Tag habe er Tabletten schlucken müssen. Auch Erich Stein (*Name von der Redaktion geändert) kommt in den 1960er Jahren in das Kinderheim. „Wenn ich mich gegen die Medikamente wehrte, bin ich in einer schalldichten Zelle eingesperrt worden und habe eine Beruhigungsspritze bekommen“, sagt der 65-Jährige. Manchmal sei er dann auch von Nonnen und Ärzten missbraucht worden.
Als die beiden Heimkinder mit 18 Jahren entlassen werden, versuchen sie diese Erlebnisse zu verdrängen. Ihr Leben lang. Ihr Schicksal könnte für unzählig viele Kinder und Jugendliche aus der Nachkriegszeit stehen. NRW will das jetzt erforschen lassen.
Neue Studie: „Es geht darum, Verantwortliche auf staatlicher Ebene zu benennen“
Die NRW-Landesregierung finanziert eine neue Studie mit 430.000 Euro. Es geht um den Einsatz und Missbrauch von Arzneimitteln in Kinderheimen in der Nachkriegszeit. „Das dunkle Kapitel unserer Landesgeschichte muss aufgeklärt werden“, sagte NRW-Sozialminister Karl-Josef-Laumann (CDU). „Die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse und Erlebnisberichte damaliger Opfer belegen in vielen Fällen, dass Kindern und Jugendlichen unsachgemäß und missbräuchlich Medikamente verabreicht wurden.“
Heiner Fangerau arbeitet im Forscherteam, das das Land beauftragt hat. Er ist Professor für Geschichte, Theorie und Ethik an der Universität Düsseldorf und erklärt: „Die Frage wird sein: Hat das Jugendamt oder haben die Eltern den Medikamenten zugestimmt? Und wenn nicht: Wie kann das sein?“ Wie viele Einrichtungen in NRW untersucht werden, kann er noch nicht genau beziffern. „Vermutlich 80 bis 100 Stück, eher mehr.“ Das richtet sich nach der Quellenlage.
Es sollen auch historische Dokumente von Ämtern, Pharmakonzernen und Medizin-Zeitschriften untersucht werden. Hinzu kommen Interviews mit Zeitzeugen. „Es geht darum, Verantwortliche auch auf staatlicher Ebene zu benennen“, so Fangerau. Ergebnisse sollen in zwei Jahren vorliegen. Auch andere Bundesländer haben solche Arzneimittelstudien beauftragt.
Erste Studien belegen die damaligen Medikamentenversuche im Franz-Sales-Haus
Für Aust und Stein fühlt sich das Regierungsvorhaben wie ein Befreiungsschlag an. „Endlich! Das haben wir nur Sylvia Wagner zu verdanken“, betonen sie im Interview immer wieder. Sylvia Wagner ist eine Medizinhistorikerin und Pharmazeutin. Sie hat die skandalösen Zustände 2016 erstmals aufgedeckt: Sie schrieb in ihrer Doktorarbeit über Medikamentenversuche in den 1950er und 1960er Jahren. Am Beispiel des Franz-Sales-Hauses in Essen.
Unter anderem sei den Heimkindern das Neuroleptikum „Decentan“ in „überproportional hohem“ Maß verabreicht worden. Ein Mittel gegen psychische Erkrankungen mit dämpfender Wirkung. Belege dafür hatte sie in den Archiven des Pharmakonzerns Merck gefunden. Sylvia Wagner sagt: „Ich glaube, weder die Heimkinder noch ihre gesetzlichen Vertreter haben in die Versuche eingewilligt. Das ist ein absolutes Unrecht.“
Das Franz-Sales-Haus veranlasste daraufhin eine weitere Studie. Sie ist 2020 im Aschendorff Verlag auf 270 Seiten erschienen. Darin finden die Forscher Uwe Kaminsky und Katharina Klöckner weitere Belege: Mehr als die Hälfte der Kinder im Franz-Sales-Haus musste in der Nachkriegszeit Psychopharmaka schlucken. Zeitzeugen geben an, dass der damalige Heimarzt Dr. Waldemar Strehl sie mit starken Medikamenten ruhiggestellt hat. Auch von Medikamentenversuchen ist die Rede.
Viele Heimkinder trauen sich erst darüber zu sprechen, als die Studien aufkommen
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat 2017 eine ähnliche Studie in Auftrag gegeben: Zum Leid und Unrecht an Kindern und Jugendlichen zwischen 1949 und 1990 – allerdings in Behindertenhilfen und Psychiatrien. Ergebnis: Mangelhafte Unterbringung. Körperliche Gewalt. Isolation in Zellen. Demütigungen. Missachtung der Intimsphäre. Essensentzug. Fixierungen. Ungerechtfertigte medizinische Maßnahmen. „Wenn es das in den da untersuchten Einrichtungen gab, liegt der Verdacht nahe, dass dieses Wegsehen viel mehr Einrichtungen auch in NRW betraf“, befürchtet Professor Fangerau, der auch dieses Projekt geleitet hatte.
Uwe Werner ist sich dahingegen sicher: „Ich nenne das eines der schlimmsten deutschen Nachkriegsverbrechen.“ Als Vorsitzender des Vereins „1. Community“ kennt er über 250 Schicksale von ehemaligen Heimkindern. „Wir haben immer wieder von der Politik eingefordert, dass das aufgearbeitet wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren fast alle Einrichtungen leer. Man wollte, dass sie sich wieder tragen. Das war ein ganz perfides System damals.“
Ralf Aust und Erich Stein realisieren erst nach den Studien, dass sie womöglich Opfer von Medikamentenversuchen geworden sind. Auch dann erst brechen sie ihr Schweigen. Die Anträge auf Entschädigung liegen bei Gericht. „Die Angst war zu groß. In diesen Skandal sind Heime, Kirchen und Behörden verwickelt. Als Heimkind weiß man nie, wem man vertrauen kann“, sagt Stein. Deshalb will er lieber anonym bleiben.