Ruhrgebiet. Gedränge am Gleis, überfüllte Züge, Attacken gegen Personal: Das 9-Euro-Ticket birgt auch Schattenseiten. Was eine Zugbegleiterin erlebt.

Essener Hauptbahnhof, unter der Woche, elf Uhr: Die Bahnsteige sind vergleichsweise leer. Der Zug nach Köln fährt pünktlich auf Gleis 2 ein. Ein paar Fahrgäste steigen zu, nach und nach. Kein Drängeln, kein Quetschen. Ganz anders sieht das aber zu Stoßzeiten aus. Aktuell gehört Chaos im Bahnverkehr nicht nur zum Alltag vieler Fahrgäste. Auch das Personal muss damit zurechtkommen.

„Mit dem 9-Euro-Ticket ist ein Schalter umgelegt worden. Auf einmal waren die Züge rappelvoll“, sagt Josephin Krüger. Sie ist Zugbegleiterin bei National Express (NX) – und erlebt, dass sich durch das Angebot auch Schattenseiten auftun.

9-Euro-Ticket ist ein Verkaufsschlager – wie es im September weiter geht, ist unklar

Auch interessant

Das Ticket ist Teil des Energie-Entlastungspakets der Bundesregierung. Bundesweit wurde es Branchenangaben zufolge 21 Millionen Mal verkauft. „Das 9-Euro-Ticket ist ein großer Erfolg und zeigt, wie wir vorangehen müssen, wenn wir im ÖPVN nachhaltig etwas verändern möchten“, freute sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP).

Ob es nach dem Ende der Rabattaktion im September eine Anschlussregelung gibt, ist bislang jedoch unklar. SPD-Parteichefin Saskia Esken forderte zuletzt einen zügigen Vorschlag für ein Nachfolgemodell – und auch die Grünen-Chefin Ricarda Lang sprach sich dafür aus. FDP-Finanzminister Christian Lindner schließt eine Anschlussregelung hingegen kategorisch aus.

Ticketkontrolle kommt manchmal zu kurz – Sicherheit ist wichtiger

ttp://9-Euro-Ticket- Weniger Schwarzfahrer im RegionalverkehrDass das Ticket in der Bevölkerung gut ankommt, merkt auch die Zugbegleiterin. Ihr Job ist seitdem stressiger geworden. Normalerweise müsste sie die Tickets kontrollieren, als der Zug in Mülheim hält. Aber das Lesegerät steckt sie erst einmal weg. „Man kommt schlecht durch und im Eingang knubbelt sich alles.“ Mit lauter Stimme ruft sie durch das Gedränge: „Drei Wagen weiter ist noch etwas frei. Bitte verteilen Sie sich, damit wir die Türen schließen können.“

Mit ein paar Minuten Verspätung fährt die Bahn wieder los. Fast jeder Platz im hinteren Abteil ist jetzt belegt. Manche Fahrgäste sitzen auf den Treppen, manche stehen in den Gängen. Der Zug wackelt und ruckelt. „Gut festhalten“, sagt Krüger. Dann schnappt sie sich einen Koffer von einem Urlauber und verstaut ihn über dem Sitzplatz. Wegen der vielen Fahrgäste muss die 33-Jährige mehr als sonst auf die Sicherheit achten.

„Wir bieten mehr Service an. Schauen also, ob die Fluchtwege frei sind, ob Gepäckstücke im Weg stehen, ob wir für Ältere und Schwangere einen Sitzplatz finden.“ An Bahnsteigen prüft sie, ob alle Fahrgäste eingestiegen sind. Normalerweise sei das Aufgabe des Lokführers. „Aber weil so viel zu tun ist, übernehme ich das.“

9-Euro-Ticket macht Fachkräftemangel in der Bahnbranche sichtbar

Das 9-Euro-Ticket macht sichtbar: Es fehlt Personal. „Das ist schon lange ein unglaubliches Problem in unserer Branche“, sagt NX-Sprecherin Cansu Erdogan. Hinzu kommt: „Viele Mitarbeiter gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Das wird ein weiteres Loch in die ohnehin schon dünne Personaldecke reißen.“

Das bestätigt auch Ludger Ingendahl von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) in Düsseldorf. Das Personal bleibe stark belastet – auch unabhängig vom 9-Euro-Ticket. „Der demografische Wandel spiegelt sich auch im Eisenbahnbereich wider. Wir suchen händeringend Personal“, sagt Ingendahl. In Anbetracht der Klimakrise sei es dringend notwendig, den Verkehr auf die Schiene zu bringen. „Aber wir haben keine Kapazität und Infrastruktur. Dafür müssten Milliarden investiert werden.“

Berichte in den Medien: Zugpersonal wird beleidigt und angegriffen

Und wie sieht es mit dem persönlichen Sicherheitsgefühl der Zugbegleiter aus? Haben Beleidigungen und tätliche Übergriffe infolge des Fahrgastansturms zugenommen? „Es gibt immer mal Situationen, die brenzlig sind. Aber ich habe noch nie Angst gehabt oder mich tatsächlich in Gefahr gefühlt“, sagt Josephin Krüger. Ihren Job wolle sie deshalb nicht aufgeben. Dafür gebe es zu viele schöne Begegnungen.

„Letztens habe ich einer Familie einen Kinderfahrschein ausgestellt. Die kleine Tochter hat mir danach ein Küsschen auf den Arm gegeben. Das sind Momente, in denen mir das Herz aufgeht.“ Sie lächelt. Im Zug ist es jetzt etwas ruhiger. Mit dem Ticketlesegerät in der Hand geht sie ins obere Abteil: „Einmal die Fahrkarten, bitte.“