Gelsenkirchen. Über 4000 Jugendliche haben die Schule ohne Abschluss verlassen. Ein Umdenken des Systems könnte helfen. Aber die SPD zweifelt am Willen der CDU.
Es ist etwa drei Jahre her, als Lara kurz davorstand hinzuschmeißen. Ihre Kraft für Schule war aufgebraucht. „Wenn ich mich jeden Tag quälen muss, dort hinzugehen, wo mich eh keiner mag: Warum soll ich dann überhaupt noch hin?“, sagt die heute 17-Jährige über diese Zeit. Ihre weiterführende Schullaufbahn begann am Gymnasium, später wechselte sie auf zwei Realschulen. Keine Klasse passte, Lara fühlte sich unwohl. Dann kam sie zum Förderkorb, eine Anlaufstelle für Schüler, die mit dem Abschluss hadern.
Die Berufshilfe liegt im Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf, ein altes Backsteingebäude, das aus allen Nähten platzt. Lara ist täglich vor Ort – und glücklich. Ohne die Hilfe wäre sie ziemlich untergegangen, sagt die Schülerin, hier fühle sie sich viel besser aufgehoben. „Je mehr ich mich geöffnet habe, desto mehr habe ich mich angenommen gefühlt.“ Bald wird sie auf den Hauptschulabschluss vorbereitet.
Nordrhein-Westfalen: Rund 4055 Jugendliche verließen die Schule ohne Abschluss
Im Schuljahr 2020/21 haben in Nordrhein-Westfalen rund 4055 Schüler und Schülerinnen (2,3 Prozent) die Schule ohne Abschluss verlassen, davon kamen 200 aus Gelsenkirchen – mit 7,8 Prozent war das der landesweite Höchstwert. Ludger van Doorn ist Teamleiter der Jugendstrukturprojekte im Förderkorb, kümmert sich unter anderem um Schulkurse und eine Schülerwerkstatt, die Jugendlichen beim Wiedereinstieg helfen soll. „Die Schüler haben oft keinen Bock mehr“, sagt er. Trotzdem ist der Bedarf groß, dabei bietet die Werkstatt nur zwölf Plätze. „Da können wir eine Null dran machen und es wäre immer noch zu wenig.“
Corona habe noch einen draufgesetzt, die Schulmüdigkeit weiter verstärkt. „Es braucht den persönlichen Kontakt, um die Schüler einzufangen“, sagt van Doorn. Er rechnet mit einem Anstieg von Abgängern ohne Abschluss. Im Vergleich zum Schuljahr 2019/20 nahm die Zahl bereits zu (285 Schüler mehr), bildet aber den zweitniedrigsten Wert der vergangenen zehn Jahre. Die Gründe für einen Abbruch sind vielfältig: Oft sammeln Betroffene früh negative Erfahrungen in der Schule oder erleben Orientierungslosigkeit zu Hause. Gerade die Familie spielt eine große Rolle.
Schulleiter über Abbrüche: „Es gibt Kollegen, die das als persönliche Niederlage empfinden“
Ein paar Autominuten vom Förderkorb entfernt, liegt die Gesamtschule Ückendorf. Eine zweistellige Zahl von Schülern verlässt diese im Jahr ohne Abschluss. Seit 2015 ist Achim Elvert hier Schulleiter, auch er weiß, wie wichtig das persönliche Umfeld ist. „Ich bin überzeugt, dass wir ohne Eltern nichts erreichen können“, sagt er. Die Schule sei auf eine Zusammenarbeit angewiesen. Denn die Jugendlichen würden häufig nicht erkennen, was ein Abschluss später wert sei.
Auch Lehrer zweifeln an ihrer Arbeit, wenn Schüler vorzeitig gehen. „Es gibt Kollegen, die das als persönliche Niederlage empfinden“, sagt Elvert. Irgendwann konzentriere sich die Energie aber auf diejenigen, die noch zu erreichen sind. „Alles andere wäre schöner und idealistischer.“ Das Problem: „Wenn man die Schüler nicht rechtzeitig auffängt, dann wird der Berg irgendwann so groß, dass den keiner mehr angeht.“ Es sei wichtig, Erfolge zu vermitteln, betont der Leiter, er wünscht sich mehr Angebote vor Ort. „Am liebsten hätte ich die Möglichkeiten vom Förderkorb in der Schule.“
Landtag: SPD-Experte Jochen Ott zweifelt am Problembewusstsein der CDU
Wie sich Schule in NRW künftig aufstellt, darüber entscheiden voraussichtlich CDU und Grüne. Forderungen nach einem Umdenken kommen aus der SPD. „Ein Bildungssystem, das Jahr für Jahr so viele junge Menschen ohne Schulabschluss in ihr weiteres Leben entlässt, muss neu gedacht werden“, sagt der Schul-Experte und stellvertretende Fraktionschef Jochen Ott. „Von der CDU wird da allerdings wenig zu erwarten sein. Solange die konservativen Eliten das nicht als ihr Problem erkennen, werden sie am bestehenden System nichts verändern wollen.“ Dabei sei es längst ihr Problem, denn der Fachkräftemangel schlage bereits mächtig ins Kontor.
Aus dem Verband Bildung und Erziehung (VBE) kommen Rufe nach besseren Arbeitsbedingungen. „Lehrer brauchen Zeit für Schüler. Wenn aber zu wenig Personal da ist, fehlt diese Zeit“, sagt Stefan Behlau, Vorsitzender des VBE NRW. Die neue Regierung müsse sich damit befassen, wie sie Schüler trotz Personalmangels unterstützen kann.
Mehr Praxis, mehr Erfolge: Bildungsforscherin rät, Schule flexibler zu denken
Wer Schule neu aufstellen will, sollte zunächst das System hinterfragen. Bildungsforscherin Prof. Gabriele Bellenberg von der Ruhr-Universität Bochum sagt: „Wir müssen Schule in Zukunft flexibler denken.“ Die Erfahrungen würden zeigen, dass gerade praktisches Lernen gefährdeten Schülern helfen kann – zum Beispiel bei einem Langzeitpraktikum. „In einem Betrieb haben Jugendliche einen neuen Ort, wo sie Erfolge einheimsen können“, erklärt Bellenberg. Dort würden andere Fähigkeiten geschätzt als im System Schule, das hier an seine Grenzen stoße. Wichtig sei auch eine frühe Berufsberatung, um Schülern die Bedeutung eines Abschlusses zu vermitteln.
Lara, die Schülerin im Förderkorb, wünscht sich mehr Rücksicht. „Nicht jeder ist geboren, um komplett durchzuackern.“ Ihr Ziel sei es, mindestens den Realschulabschluss zu schaffen. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Mutter – „voll und ganz“. Teamleiter Ludger van Doorn traut Lara auch das Abitur zu, sogar ein Studium. Im nächsten Jahr stehen schon Prüfungen an, dann geht es um den Hauptschulabschluss. Und was hat sie vor, wenn der geschafft ist? „Dann werde ich mich sehr freuen“, sagt Lara, „und erstmal ein Bierchen trinken“.