Berlin. Erste Ökonomen fordern angesichts der hohen Inflation einen späteren Renteneintritt. IW-Direktor Michal Hüther hat eine andere Idee.
Deutschland läuft auf eine Wand zu. Schon jetzt sind die ersten Babyboomer, also diejenigen, die in den Jahrgängen zwischen 1955 und 1969 geboren wurden, in Rente gegangen. Das Gros wird aber erst in den nächsten Jahren folgen – und die Wirtschaft, die Politik und nicht zuletzt das Rentensystem vor Probleme stellen.
Schon heute bleiben Hunderttausende Stellen unbesetzt, weil die Fachkräfte fehlen. Allein das Handwerk beziffert seinen Mangel an Personal auf eine Viertelmillion Handwerker. In der IT sind fast 100.000 Jobs unbesetzt.
Rente: Ökonomen fordern späteren Renteneintritt
Der Fachkräftemangel könnte die ohnehin schon stark gestiegene Inflation weiter anheizen. Immer mehr Unternehmen sind bereit, um Fachkräfte mit hohen Löhnen zu buhlen – und die Kosten auf ihre Produkte umzulegen. Ökonomen befeuerten daher jüngst eine schwelende Debatte: einen späteren Renteneintritt.
Schon im vergangenen Jahr hatte der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, gegenüber unserer Redaktion ein Renteneintrittsalter von 69 bis 70 Jahren ins Gespräch gebracht.
Auch Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer findet, man müsse sich mit der Frage beschäftigen: „Natürlich gibt es eine Entwicklung beim Lebensalter. Und die ältere Generation ist fitter als noch vor 20 oder 30 Jahren. Das kann nicht unberücksichtigt bleiben“, sagte der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) unserer Redaktion.
Rente erst mit 70? IW-Direktor Hüther hat eine andere Idee
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte solchen Überlegungen jüngst aber eine klare Absage erteilt: „Die Vorstellung, dass man im Stahlwerk oder an der Supermarktkasse, als Polizistin oder als Krankenschwester bis 70 arbeiten soll, die können nur Leute haben, die in einer ganz anderen Welt leben.“
Eine andere Idee hat nun Ökonom Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln: „Es braucht die 42-Stunden-Woche“, forderte Hüther im Gespräch mit unserer Redaktion. Üblich ist derzeit eine 40-Stunden-Woche. Das Arbeitszeitgesetz sieht einen gewissen Spielraum vor. Bis zu 48 Stunden in der Woche dürfen Beschäftigte demnach höchstens arbeiten, in Ausnahmefällen vorübergehend auch bis zu 60 Stunden.
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Durchschnittliche Wochenarbeitszeit sinkt in Deutschland seit 1991
Für seinen Vorschlag blickt Hüther in andere Länder. „Die Schweizer arbeiten im Vergleich zu uns zwei Stunden mehr pro Woche, die Schweden eine Stunde mehr. Wenn man das aufsummiert, dann würde man bis 2030 den demografisch bedingten Verlust an Arbeitsvolumen kompensieren“, sagt der IW-Direktor. Dabei stellt er klar: „Die Stunden werden natürlich bezahlt – es geht nicht darum, durch die Hintertür am Lohn zu kürzen.“
Der Haken: Längst nicht jeder ist bereit, zwei Stunden pro Woche zusätzlich zu arbeiten. Tatsächlich geht die Arbeitszeit nach Daten des Statistischen Bundesamtes seit 1991 zurück. Arbeiteten die Beschäftigten 1991 im Schnitt noch 38,4 Stunden pro Woche, waren es im Vor-Pandemie-Jahr 2019 3,6 Stunden weniger. Aber: Wer Vollzeit arbeitete, kam im Schnitt bereits auf 41 Stunden.
Hüther will Arbeits- und Ruhezeiten auf den Prüfstand stellen
Hüther geht mit seiner Idee noch weiter. Seiner Vorstellung nach soll man nicht einfach pro Tag 24 Minuten länger arbeiten. „In Zeiten der digitalen und mobilen Arbeit muss man nicht mehr jeder Stunde hinterherlaufen und sie aufzeichnen“, ist der 60-Jährige überzeugt. Die zulässigen Arbeitszeiten pro Tag und die Ruhezeiten müssten auf den Prüfstand, forderte er.
Als Vorbild könnte dabei Belgien dienen. Im deutschen Nachbarland können die Beschäftigten künftig selbst entscheiden, ob sie ihre Wochenarbeitszeit wie gewohnt in fünf Tagen oder lieber in vier Tagen abarbeiten wollen.
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Höhere Produktivität könnte längere Wochenarbeitszeit verhindern
Was aber, wenn die Beschäftigten die Idee einer 42-Stunden-Woche nicht annehmen würden? Seit Jahren geht der Trend zu mehr Work-Life-Balance, also einem ausgewogeneren Verhältnis aus Arbeit und Freizeit. Einer wirklichen Rentenreform geht die Politik seit Jahren aus dem Weg.
Dabei fließt bereits rund jeder fünfte Euro aus dem Bundeshaushalt an die Rentenversicherung, um die Zahlungen zu finanzieren. Ein höheres Renteneintrittsalter schließt die Ampelkoalition ebenso wie ein sinkendes Rentenniveau aus. Blieben also steigende Beiträge, noch mehr Zuschüsse – oder eine weitere Option: steigende Produktivität. In derselben Arbeitszeit wie bisher würden die Beschäftigten also ein höheres Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften.
Die Hoffnung liegt dabei auf der Digitalisierung. Doch auch hier ist Hüther skeptisch. „In den Industriestaaten ist die Produktivität in den vergangenen Jahrzehnten gesunken“, sagt er. Seine großen Chancen, etwa bei der künstlichen Intelligenz, würde Deutschland nicht nutzen.
System | Die gesetzliche Rente funktioniert nach dem Äquvivalenz- und dem Solidarprinzip. |
Renten-Arten | Grund-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrente |
Ausnahmen | Selbstständige und Freiberufler sind in der Regel von der Versicherungspflicht befreit. |
Finanzierung | Die gesetzliche Rente in Deutschland ist grundsätzlich umlagenfinanziert. |
Probleme | Die Unterfinanzierung resultiert hauptsächlich aus der zunehmend älter werdenden Bevölkerung in Deutschland. |
Drei Säulen | Die Altersvorsorge in Deutschland umfasst die gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge. |
Ursprung | Die gesetzliche Rente wurde am 22. Juli 1889 unter Reichskanzler Otto von Bismarck offiziell eingeführt. |
Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen