Berlin. Kinderärzte verlegen Patienten wegen Bettenmangels in weit entfernte Kindkliniken. Was jetzt im Herbst schwer kranken Kindern droht.
Deutschland, im Herbst 2021. Im Schatten der Corona-Pandemie spielt sich ein Drama ab, das bis heute nachwirkt. Schwer kranke Kinder werden im Akkord per Krankenwagen oder Hubschrauber aus München in andere Kliniken gebracht – teilweise hunderte Kilometer weit weg von Zuhause. Ärzte rufen bis zu 23 Krankenhäuser an, bis sie ein freies Bett für ihre kleinen Patienten finden.
Es geht zwar um eine starke, saisonale Infektionswelle. Aber: „Auch zu normalen Zeiten kommt es vor, dass wir sechs oder sieben Kliniken durchtelefonieren, bis wir ein passendes Bett finden“, sagt Jörg Dötsch, Kindermediziner aus Köln und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ).
„Es ist auch schon vorgekommen, dass wir Kinder über die Grenze nach Luxemburg, Belgien oder in die Niederlande verlegt haben.“ Nicht wegen Corona, wegen chronischem Mangel. In den 340 deutschen Kinderkliniken fehlen zu viele Betten.
„Es ist völlig absehbar, dass da Kinder zu Schaden kommen werden“
Kinderärzte schlagen bundesweit Alarm: „Wenn es Infektionswellen gibt, wie sie im Herbst in der Regel vorkommen, haben wir keine Chance, alle Kinder zu versorgen“, sagt Florian Hoffmann, Kindermediziner aus München und Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Der Trend sei mittlerweile, schwerkranke Kinder auf kleinere Krankenhäuser abseits der Großstädte zu verteilen.
Das bedeutet gleichzeitig: Die Kinder werden nicht mehr in einer Klinik mit medizinischer Maximalversorgung behandelt, sondern unter Umständen in einem Krankenhaus, dass viel weniger Erfahrung hat. „Es ist völlig absehbar, dass da Kinder zu Schaden kommen werden.“ Studien bestätigten das: Kinder, die direkt aus der Notaufnahme auf die Kinderintensivstation kommen, haben demnach bessere Heilungschancen als Kinder, die erst einen weiten Transportweg hinter sich bringen müssen.
Jedes dritte Bett in der Kinderintensivmedizin kann nicht mehr genutzt werden
Hoffmann nennt die bitteren Zahlen dahinter: In vielen deutschen Kinderkliniken können auf den Kinderintensivstationen im Schnitt ein Drittel der Betten wegen Personalmangels nicht genutzt werden. In manchen Kliniken sei sogar die Hälfte nicht mehr belegbar.
Der Mangel trifft nicht nur die schwerstkranken Kinder. Nach Angaben der DGKJ ist die Bettenzahl in der Kinderheilkunde zwischen 1991 und 2017 insgesamt um ein Drittel gesunken. Gleichzeitig stiegen die Fallzahlen von durchschnittlich 900.000 behandelten Kindern und Jugendlichen im Jahr auf mehr als eine Million an.
Bei Infektionswellen verschärft sich die Mangellage: Wegen der Isolationspflicht können teilweise Zwei- oder Dreibettzimmer nur für ein Kind genutzt werden. Doch gerade dann ist der Bedarf oft besonders hoch: „Wenn man die Betten am dringendsten braucht, ist die Verknappung am deutlichsten spürbar“, sagt Dötsch. In der Folge, so heißt es bei der DGKJ, würden Kinder nicht nur weit entfernte Kliniken verlegt, immer öfter würden auch Behandlungen verschoben.
Im vergangenen Herbst waren fast alles Kinderkliniken komplett überlastet
Die Kinderkliniken organisieren sich in regionalen Verbünden, sie sprechen sich ab: Wer hat noch ein Bett für ein Kind mit Magen-Darm-Infektion? Wer hat noch eins für ein Schädel-Hirn-Trauma? „Aber das reicht nicht immer aus“, sagt DGKJ-Präsident Dötsch.
Im Herbst, in der jüngsten Infektionswelle mit dem RS-Virus, das vor allem bei Kleinkindern lebensbedrohliche Atemwegsinfektionen auslösen kann, seien nahezu alle Kinderkliniken komplett überlastet gewesen. „Das kann im kommenden Herbst wieder drohen, wenn sich die Lage bis dahin nicht ändert.“ Dötsch ist Mitglied der Expertenkommission von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), die Vorschläge zur Krankenhausreform machen soll.
Die Ursache für die Not der Kinderkliniken sehen viele Fachleute in Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre – vor allem in einem grundsätzlichen Denkfehler: Kinderheilkunde ist keine Erwachsenenmedizin.
Das beginnt schon mit den Allerkleinsten: „Wir schaffen es heute, dass Neugeborene überleben und gesund groß werden können, die bei der Geburt nur 400 Gramm wiegen. Oder, dass Kinder überleben, die ohne funktionsfähige Nieren zur Welt gekommen sind. Das bindet natürlich jedes Mal Personal über Wochen und Monate“, sagt Dötsch. Gleichzeitig rentiere es sich im ökonomisierten Gesundheitssystem für viele Klinikträger nicht, Betten für so kranke Kinder vorzuhalten, weil die Fälle hier viel schwerer kalkulierbar seien als bei Erwachsenen und sich das wirtschaftlich im Fallpauschalen-System nicht rechne.
Das Personal auf den Kinderstationen ist am Limit
Hinzu kommen zwei weitere Faktoren: „Wir haben einen viel höheren Gesprächsaufwand, weil wir mit den Kindern und den Eltern sprechen, oft auch noch getrennt mit beiden. Wir müssen Spezialisten haben wie in der Erwachsenenmedizin, haben aber nicht annähernd so viele Fälle.“ Klar: Aus ökonomischer Sicht sind Erwachsene deswegen günstiger. Aber: Mit der Kinder- und Jugendmedizin sei es wie mit der Feuerwehr, so der Mediziner. „Die Feuerwehr wird finanziert, auch wenn es gerade nicht brennt. Man muss auch die Pädiatrie finanzieren, wenn es nicht brennt.“
Die dramatische Lage hat noch eine weitere Ursache: Das Personal auf den Kinderstationen ist am Limit. Die Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten machten es immer schwieriger, die Pflegerinnen und Pfleger langfristig in ihrem Beruf zu halten, so DIVI-Generalsekretär Hoffmann. Viele suchten sich schnellstmöglich etwas Neues oder arbeitete nur noch Teilzeit. „Der Job ist psychisch und physisch anstrengend und nicht gut bezahlt – trotzdem oder vor allem aber sehr sinnstiftend und deshalb großartig. Aber wenn man von diesem Job nicht leben kann, nützt das nichts.“
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Die neuen Personaluntergrenzen sorgen zwar für einen besseren Personalschlüssel, haben aber zu Folge, dass viele Betten aus Mangel an Fachkräften nicht mehr betreibbar sind. Ein Beispiel: Auf einer normalen Kinderstation darf sich eine Pflegekraft nachts maximal um zehn Kinder kümmern. Bei jedem weiteren Kind müsste eine zusätzliche Pflegekraft eingeplant werden. Die fehlt aber oft. Folge: Viele zusätzliche Betten sind zwar da, können aber nicht belegt werden.
Wer Kinderkrankenpflege lernen will, muss erstmal Altenpflege lernen
Gleichzeitig droht die Kinderkrankenpflege als Ausbildungsberuf zum Auslaufmodell zu werden: In der neuen, generalistischen Pflege-Ausbildung gebe es wenig Anreize für eine Vertiefung oder Spezialisierung im Bereich der Kinderkrankenpflege, sagen Kritiker. Viele Azubis mit Wunschberuf Kinderkrankenpflege fragten sich, warum sie zwei Jahre lang Altenpflege und Erwachsenenpflege lernen sollen, wenn sie sich später eigentlich ausschließlich um Kinder kümmern wollten.
„Die Attraktivität dieses Berufs ist hierdurch verloren gegangen. Entsprechend haben wir in der Kindermedizin einen noch viel dramatischeren Pflege-Engpass als in anderen Bereichen“, warnt Hoffmann. Die Politik müsse jetzt die Krankenpflegeschulen verpflichten, die Vertiefung und Spezialisierung für Kinderkrankenpflege flächendeckend und damit länderübergreifend anzubieten.
Gesundheitsminister Lauterbach will Kinderkliniken künftig anders finanzieren
Lauterbach kennt die Kritik. Der SPD-Politiker hat bereits Reformen angekündigt: Um den ökonomischen Druck zu nehmen, sollen die Kinderkliniken künftig nicht mehr nach dem bisherigen System der Fallpauschalen finanziert werden. Auch den Personalmangel will Lauterbach angehen – wie, das ist noch vollkommen offen. DIVI-Generalsekretär Hoffmann ist skeptisch: „Die Lage der Kinderkliniken ist dramatisch und wird sich eher noch verschärfen.“
Ein System, das man über Jahre nach unten gefahren hat, kann man nicht einfach wieder hochfahren. „Selbst wenn die Politik jetzt gegensteuert, werden Veränderungen frühestens in einigen Jahren greifen. Der Trend wird erstmal noch weiter bergab gehen.“ Und die Sorge vor dem nächsten Herbst wächst: „Wenn die üblichen Infektionswellen kommen, werden viele Kinderkliniken wieder in die Knie gehen.“