Washington. Die Kugel traf den jungen Schwarzen an einer tristen Ecke der Bronx, als das alte Jahr nur noch ein paar Stunden zählte. In der öffentlichen Erinnerung wird der junge Mann über den Jahreswechsel hinaus bleiben. Wegen des Moments, in dem er starb.

Ohne es zu wollen, schrieb das 461. und letzte Mordopfer in der Acht-Millionen-Stadt im Jahr 2009 Geschichte. Noch nie, seit überhaupt Statistik geführt wird, kamen in New York weniger Menschen gewaltsam ums Leben als im letzten Jahr. Für europäische Verhältnisse mag die Mordrate noch immer erschreckend hoch sein. Aber New York hat schon Zeiten gekannt, als Chronisten erhebliche Mühe hatten, sich die Namen der Mordopfer auch nur eines einzigen Tages zu merken. Allein in den 20 Jahren zwischen 1978 und 1998 wurden zwischen der Bronx im Norden und Staten Island im Südwesten 32000 Menschen erschossen und erstochen, erschlagen oder verbrannt. Das Jahr 1990 markiert noch immer den traurigen Höhepunkt dieser erschütternden Serie: Im blutigsten Jahr der jüngeren Stadtgeschichte kamen damals 2245 Menschen gewaltsam ums Leben. Die lokale „New York Times“ wähnte die Stadt damals auf dem Weg, ein zweites Bürgerkriegs-Beirut zu werden.

Dass sich New Yorks gerade zum dritten Mal gewählter Bürgermeister Michael Bloomberg die Rekord-Bilanz prompt ans Revers heftete, mag man ihm nachsehen. Der Milliardär an der Stadtspitze ist bekanntermaßen ausgesprochen eitel. Dabei sinkt die Zahl der Morde längst nicht nur in New York, sondern auch in den anderen US-Großstädten. Los Angeles etwa, aber auch die Coca-Cola-Hauptstadt Atlanta verzeichneten im letzten Jahr sogar noch einen weit deutlicheren Rückgang der Mordrate als etwa New York. Selbst im berüchtigten New Orleans und in der Hauptstadt Washington, die über Jahre mit dem traurigen Ruf der amerikanischen „Mord-Hauptstadt“ leben musste, gehen die Morde deutlich zurück. Zwar ist Washington mit seinen gerade 600000 Einwohnern und 140 Morden allein im letzten Jahr nach wie vor alles andere als ein friedliches Kurstädtchen. Doch die Zahl der Mordopfer hat sich in den letzten zehn Jahren praktisch halbiert. Nur Baltimore gleich nebenan fiel mit 238 Morden aus dem Rahmen und verzeichnete im letzten Jahr vier Morde mehr als noch im Vorjahr. Knapp neun von zehn Opfern in der Hafenstadt waren Schwarze. Das teilt Baltimore mit vielen anderen US-Großstädten.

Die Experten sind überrascht

Dass in den USA nach FBI-Erkenntnissen landesweit weniger gemordet wird und auch die Zahl bewaffneter Raubüberfälle deutlich abgenommen hat, hat viele Experten überrascht. Angesichts der wütenden Wirtschaftskrise, der millionenfachen Jobverluste, der Verzweiflung und schieren Not hatten viele eher einen Anstieg der Kapitalverbrechen erwartet. Doch das Gegenteil trat ein. Experten streiten, warum das so ist. New York etwa, das unter dem robusten Bürgermeister Rudy Giuliani schon in den frühen 90er Jahren eine „Null-Toleranz-Politik“ einführte, verweist stolz auf seine Polizei, die hart durchgreife, auf die technische Aufrüstung und scharfe Gesetze, die den Schusswaffenbesitz auf legale Weise in der Tat praktisch unmöglich macht. Doch auch im texanischen Houston, wo man sich Waffen nach wie vor wie frisches Brot kaufen kann, fiel die Mordrate im letzten Jahr auf ein Rekordtief.

Waffen haben Konjunktur

Glänzendere Geschäfte als im letzten Jahr haben Amerikas Waffenverkäufer ohnehin selten gemacht. Um 14 Prozent stiegen, seit Barack Obama im Weißen Haus regiert, landesweit die Verkäufe von Gewehren und Pistolen. Eine Art Torschlusspanik unter vielen Amerikanern hat da eine Rolle gespielt, getrieben von der Furcht, dass die demokratische Mehrheit im US-Kongress den Amerikanern den privaten Schusswaffenbesitz künftig erheblich erschweren wolle. Immer mehr Waffen in privaten Händen und trotzdem weniger Morde ließen die einflussreiche Waffenlobby laut triumphieren. „Ein zentrales Argument, den Waffenbesitz einzuschränken“, ist vom Tisch“, jubelte Knarren-Lobbyist Alan Gottlieb. Vielleicht, so der Kriminologe Gary Kleck, sind bewaffnete Räuber heutzutage einfach nur vorsichtiger geworden, seit sich auch in ihren Kreisen herumgesprochen hat, dass tatsächlich immer mehr Amerikaner bewaffnet sind. „Mag sein, dass es da einen Zusammenhang gibt“, meinte Kleck.

Andere wiederum nennen das baren Unsinn, halten statt dessen die Theorie hoch, dass der „Pool der Kriminellen“, ausgezehrt von Aids und Heroin, in den letzten Jahren deutlich geschrumpft sei. Und wieder andere halten die verschärften Anti-Alkoholbestimmungen in vielen Bundesstaaten für entscheidend, dass nicht mehr so schnell wie früher zur Waffe gegriffen und geschossen wird.