Lwiw. Lwiw hat eine einmalig erhaltene Altstadt und viele Museen. Die Bewohner der Stadt setzen alles daran, die Kunstschätze zu schützen.
Kinderzeichnungen, Familienfotos, ein Porträt des berühmten ukrainischen Schriftstellers Iwan Franko, ein Gebäudeplan. Normalerweise sind derlei Gegenstände liebevoll im Museum zu Ehren des Dichters in der westukrainischen Stadt Lwiw ausgestellt. Doch jetzt, in den Tagen des Krieges, ist nichts normal.
Ein Teil der Exponate wanderte in den Bunker des Museums, das von Bohdan Tykholoz geleitet wird. Die Raketen der Russen haben zwar erst die Außenbezirke von Lwiw getroffen – einen Truppenübungsplatz, einen Flugplatz und zuletzt ein Treibstofflager.
Doch Tykholoz weiß, dass auch seine Stadt bald auf breiter Front beschossen werden kann. Er will seine Kunstschätze schützen und wohnt im Bunker. „Ein Museumsdirektor ist wie der Kapitän eines Schiffs, er geht als letzter von Bord“, sagt der 43-Jährige.
Tykholoz ist vor Kurzem in das Museum auf den Hügeln von Lwiw gezogen. Seine Frau und seine Kinder haben sich bereits auf den Weg nach Deutschland gemacht. Er hat seine Wohnung Geflüchteten aus den bombardierten Städten im Osten der Ukraine zur Verfügung gestellt.
Am 24. Februar, dem ersten Kriegstag, wurden 35.000 Ausstellungsstücke verpackt
„Es gibt keine aktuellen Vorgaben zur Evakuierung der Sammlung, die letzten Anweisungen stammen aus der Zeit des Kalten Krieges“, erklärt Tykholoz. „Also sind wir den Empfehlungen des Internationalen Museumsrates gefolgt.“ Der Direktor hatte nicht wirklich eine Wahl angesichts der „langsamen Reaktion des Kulturministeriums, das auf den Krieg überhaupt nicht vorbereitet war“.
Es war alles Eigeninitiative. Seit dem 24. Februar, dem ersten Tag des russischen Angriffs, sind die Angestellten des Museums einfach zur Tat geschritten. Sie schnappten sich ein Stück nach dem anderen und verstauten alles in Kartons, die sie sich selbst bei verschiedenen Postfilialen besorgt hatten. Die insgesamt 35.000 Ausstellungsobjekte wurden sorgfältig verpackt und beschriftet und das Datum des letzten Tages vor Ausbruch des Krieges auf Papier notiert.
Die verschiedenen Ausstellungen können dann nach Kriegsende genau gleich wieder aufgebaut werden. Momentan sind die Kartons zum Teil im Museumsbunker, zum Teil in einem anderen Bunker eingelagert, dessen Standort nur zwei Personen kennen. „Wenn es gar nicht anders geht, können die Kunstwerke ins Ausland gebracht werden“, führt Tykholz aus. „Weil das Museum weit von der Front entfernt ist, war genug Zeit, die Ausstellung in Sicherheit zu bringen - im Osten des Landes hatten die Leute diese Zeit nicht.“
Iwan Franko „ist der größte Denker der ukrainischen Identität“
Iwan Franko lebte von 1902 bis zu seinem Tod 1916 in Lwiw. Er war ein produktiver Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und sozialistischer Aktivist. Er beherrschte mehr als 20 Sprachen und übersetzte die Werke von Goethe, Shakespeare und Flaubert ins Ukrainische. „Er ist einer der großen Denker der ukrainischen Identität“, betont Museumsdirektor Tykholoz.
„Vor allem aber war er ein Gegner der Russen, deren Offensive in der Ukraine aktuell nicht nur eine militärische, sondern auch eine kulturelle ist.“
Sandsäcke schützen die Fenster von außen – und Frankos Bücher von innen
Bohdan Tykholoz macht sich daher Sorgen. Die Angestellten seines Museums üben den Umgang mit der Waffe und trainieren sich in Verteidigung. Zusammen mit den Unterstützern des Museums haben sich mehr als 50 Menschen dem Schutz der Villa von Iwan Franko verschrieben. Die Fenster wurden dicht gemacht, von außen mit Sandsäcken, von innen mit Biografie-Bänden von Iwans Sohn Petro Franko.
Das Museum hat eine tragische Geschichte. Die ersten drei Direktoren wurden während des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach dafür bestraft, dass sie Iwan Frankos sozialistischen Ideen anhingen. Petro Franko wurde 1944 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD ermordet. Der Schriftsteller Petro Karmanskyi, ein Freund Iwan Frankos, wurde zum „Volksfeind“ erklärt.
Ein weiterer Sohn Iwans, Taras Franko, wurde wegen der „Verbreitung ausländischen, bürgerlichen und nationalistischen Gedankenguts“ angeklagt.
Ob Museum, Kirche oder Bibliothek – überall werden Kunstschätze in Sicherheit gebracht
Das Iwan-Franko-Haus ist kein Einzelfall. Auch andere Kulturstätten in Lwiw nahmen ihr Schicksal in die eigene Hand. Museen, Bibliotheken, Kirchen und private Sammlungen in der ganzen Stadt haben ihre Kunstwerke schnellstmöglich in Sicherheit gebracht.
Zum Beispiel die armenische Kathedrale, eines der ältesten Bauwerke von Lwiw. Die Geistlichen entfernten ein kostbares Kruzifix aus der Kirche, das bereits 1941 an einen sicheren Ort verfrachtet worden war.
Viele Gebäude der Altstadt stammen noch aus der Renaissance
Die Hektik der kulturellen und religiösen Institutionen in Lwiw ruft bei den Einwohnern Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wach. Lwiw hat rund 730.00 Einwohner und existiert seit 1356. Die Altstadt weist eine von Kriegszerstörungen verschont gebliebene und fast einmalige geschlossene Bebauung der Renaissance, des Barocks, des Klassizismus, Historismus, Jugendstils und Art déco auf.
1998 wurde das historische Zentrum der Stadt in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO eingetragen. Doch mit den heranrückenden Bombardierungen ist auch der Stadtkern der Zerstörung ausgesetzt. „Lwiw ist eine Festung, die über Jahrhunderte überlebt hat, während andere Städte zerstört wurden“, erklärt die Architekturhistorikerin des Center of Urban History of East Central Europe in Lwiw, Olha Zarechnyuk.
„Lwiw ist eine der schönsten Städte der Ukraine“
„Heute ist Lwiw eine der schönsten Städte der Ukraine. Ihre Architektur, eine Mischung aus polnisch-ukrainischem, jüdischem, deutschem, italienischem, armenischem und österreichischem Erbe, ist ein Spiegel der multikulturellen Vergangenheit.“
In Städten wie Iwankiw, Charkiw, Viaziwka gerieten Museen oder Kirchen bereits unter Beschuss und wurden zerstört. Bohdan Tykholoz sitzt in seinem Museumsbunker. Er ist sehr besorgt. „Wenn man sieht, dass die Russen es fertigbringen, die Geburtsklinik von Mariupol zu bombardieren: Was werden sie dann erst mit unseren Museen anstellen?“