Kiew. Reporter Jan Jessen befindet sich zum Zeitpunkt der russischen Invasion in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. So ist die Lage vor Ort.
In der Lobby des Hotels Khreschatyk in Kiew sitzen die Gäste an diesem Donnerstagmorgen auf gepackten Koffern. Manche kauern sich in die Sessel, andere laufen auf und ab, vielen steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.
„Es gibt heute unglücklicherweise kein Frühstück“, sagt Valerya, die Rezeptionistin, sie lächelt gequält, entschuldigend und hat Tränen in den Augen. „Wir bitten unsere Gäste, sich in die U-Bahn-Schächte zu begeben. Wir müssen evakuieren.“ Was kaum jemand für möglich gehalten hat, ist geschehen. Russland greift seit den frühen Morgenstunden die Ukraine an. Es herrscht Krieg.
Kiew: Ukrainerinnen und Ukrainer flüchten Richtung Westen
Acht Uhr morgens. Über Kiew hängen dichte, graue Wolken, es nieselt, es ist kalt. Auf dem achtspurigen Boulevard vor dem Maidan, dem zentralen Platz in der ukrainischen Hauptstadt, von dem aus vor genau acht Jahren die russlandfreundliche Regierung Janukowytsch gestürzt wurde, herrscht reger Verkehr, auf den ersten Blick schaut es aus, als wäre es ein normaler Morgen in Kiew.
Aber nichts ist an diesem Morgen normal. Viele der Autos sind unterwegs Richtung Westen, raus aus der Millionen-Metropole. Die Ausfahrtstraßen sind verstopft, es bilden sich kilometerlange Staus. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, selbst die kleinen Kioske, in denen sich die Kiewer morgens ihren Kaffee und ihre Zeitungen holen.
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Ukrainische Währung verliert massiv an Wert
Vor den Banken bilden sich Schlangen. Der Wert der Hrywnja, der ukrainischen Währung, ist über Nacht gefallen. Die Automaten spucken nur noch umgerechnet 30 Euro pro Kunden aus. Vor einem Automaten der Asvio-Bank stehen Alex, 43, Mandeep Singh 28, und Boypusy, 26. Alex ist Ukrainer, Mandeep stammt aus Punjab in Indien, Boypusy aus Nigeria.
Alex, in Lederjacke und dicker Fellmütze, erzählt, dass er Kiewer ist, ein Angestellter. Seine Firma hat heute allen frei gegeben. Er wirkt ratlos. „Das ist einfach Wahnsinn“, sagt er. „Putin ist verrückt.“ Wie es wohl weitergeht? Er zuckt mit den Schultern, schaut unsicher. „Ich befürchte, die Ukraine wird kapitulieren.“
Mandeep Singh ist vor sieben Monaten mit Freunden zum Arbeiten nach Kiew gekommen. „Jetzt wollen wird so schnell wie möglich raus.“ Nur wie? Der Flughafen der ukrainischen Hauptstadt ist seit den Angriffen am Morgen geschlossen, wann wieder Flüge aus Kiew herausgehen, ist zu diesem Zeitpunkt völlig unklar. Boypusy hingegen will bleiben. Er ist vor drei Jahren zum Studium in die Ukraine gekommen. „Niemand hat erwartet, dass das so eskalieren würde“, sagt er. „Aber jetzt werden wir alle kämpfen müssen.“
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Ukraine: „Wir werden stark bleiben“
Kurze Zeit später hat sich eine unheimliche Stille über das Herz der ukrainischen Hauptstadt gelegt. Der Verkehr hat deutlich abgenommen. Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte patrouillieren, der Präsident hat das Kriegsrecht ausgerufen. Manche Menschen haben sich in Keller und Schutzräume zurückgezogen, es heißt, die Russen rückten schnell von der belarussischen Grenze im Norden aus Richtung Kiew vor. Am Maidan stehen zwei alte Frauen, sie halten in ihren Händen Ikonen, beten in einem leisen Singsang.
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Einige wenige Menschen hasten mit eiligen Schritten über den regenfeuchten Asphalt. Daniel, 22, ist mit einem Freund unterwegs, ein blauer Schal um sein Gesicht schützt ihn vor dem kalten Wind. Er sagt, er stammt aus Donezk, jener Stadt im Osten der Ukraine, die seit acht Jahren von russlandtreuen Separatisten gehalten wird. „Vor acht Jahren sind die Russen in meine Heimatstadt eingefallen, jetzt fallen sie in mein Land ein. Sie wollen unsere Nation zerstören, aber wir werden stark bleiben“, sagt er. Er will in Kiew bleiben. „Aber ich bin sehr in Sorge um meine Mutter und meine Großmutter, sie sind noch immer in Donezk.“
Krieg: Explosionen in vielen Städten der Ukraine
Das Café Khlebny ist einer der wenigen Gastronomiebetriebe, die an diesem Morgen noch geöffnet sind. Es ist einer der vielen Studententreffs im Stadtteil Schewtschenko, türkisfarbener Anstrich, viel Holz, viel Glas. Etliche junge Leute sitzen hier, starren auf die Bildschirme ihrer Smartphones, auf denen im Minutentakt neue Nachrichten einlaufen. Das Entsetzen steht allen ins Gesicht geschrieben.
Russische Angriffe werden aus Iwano-Frankiwski gemeldet, aus Chmelnizkyj, Tschnernihiw, Charkow, Odessa, Cherson, Kramatorsk, Kiew. Es wabern Gerüchte durch das Netz von Explosionen in Städten, die nicht von russischen Raketen stammen. Sind Saboteure am Werk? Eine junge Frau in schwarzer Daunenjacke hat ihren Kopf auf die Schulter ihres Freundes gelegt, sie weint. Er streichelt sie sanft. Etliche Kunden kommen nur kurz herein, schleppen Tüten voller Gepäck heraus. Es sind Hamsterkäufe, keiner weiß, ob die Lebensmittelversorgung in den kommenden Tagen aufrecht erhalten bleibt.
Ukraine: Russische Angriffe erschüttern das Land
Yuriy Kamelchuk sitzt vor seinem Smartphone, er gibt ein Interview nach dem anderen. Kamelchuk ist an diesem Morgen in seiner Wohnung in der Nähe des Olympiastadiums, 15 Minuten Autofahrt südöstlich des Stadtzentrums, um kurz nach 5 Uhr vom Geräusch von Explosionen geweckt worden. Es waren die Einschläge russischer Geschosse auf dem militärischen Teil des Kiewer Flughafens und anderer Militäreinrichtungen in der Peripherie der ukrainischen Hauptstadt.
Kamelchuk, 42, ist Abgeordneter der Rada, des ukrainischen Parlaments, er ist Mitglied der Partei des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. „Nachdem ich aufgewacht bin, habe ich sofort mein Telefon kontrolliert. Ich war fassungslos, als ich die Nachrichten gelesen habe.“ Er wird am frühen Morgen zusammen mit anderen Abgeordneten zu einem Bunker nahe der Statue der „Mutter-Heimat“-Statue beordert, jener monumentalen Frauenfigur auf einem Berghang am Dnepr, dem Fluss, der durch Kiew fließt. In einer Hand hält diese Frauen-Figur ein Schwert, in der anderen einen Schild. Ihr Blick ist nach Osten gerichtet.
„Unsere Armee stellt sich gegen die russische Invasion“, erzählt er. Sechs russische Flugzeuge seien zerstört worden, außerdem sechs russische Panzer und andere Fahrzeuge. Fünfzig russische „Söldner“ seien in der Nähe der Stadt Schtschastja im Osten getötet worden. Es sind Berichte, zu denen es keine Bestätigungen gibt, vielleicht sind es nur Durchhalteparolen.
In die Berichte über den Widerstand der ukrainischen Armee mischen sich die Meldungen, dass die Russen nur noch wenige Kilometer vor Kiew stehen. Kamelchuk gibt sich trotzdem zuversichtlich. „Es wird in den kommenden Tagen heftige Gefechte geben und es werden viele russische Soldaten getötet werden“, sagt der Parlamentarier und ergänzt: „Die ukrainische Armee ist stark und in einer guten Verfassung“.
Die Kellnerin kommt an den Tisch, sie lächelt verlegen. „Wir müssen in zwanzig Minuten schließen“, sagt sie. Im vorderen Bereich des Khlebny haben sie sie schon die Stühle auf die Tische gewuchtet. Draußen ist das Leben fast komplett zu Stillstand gekommen. Das quirlige, lebendige Kiew ist erstarrt in Angst. Auf dem Maidan haben sich einige Männer versammelt. Sie haben sich die ukrainische Fahne um die Schultern geschlungen, schwingen die blau-gelbe Nationalfahne und die rot-schwarze Fahne der Ultranationalisten. „Ich möchte, dass die Welt versteht, dass die Ukraine ein Land der Helden ist“, sagt ein älterer Mann. „Das ist unser Land, und es wird für immer unser Land sein“.
Gegen 15.30 Uhr heult in Kiew das erste Mal der Luftalarm. Die wenigen Passanten auf der Straße bleiben wie gebannt von dem durch Mark und Bein dringenden Geheul der Sirenen stehen, schauen auf ihre Telefone, suchen hektisch nach Neuigkeiten. Es heißt, russische Kampfhubschrauber und Jets flögen schon über der ukrainischen Hauptstadt. Es ist jedoch noch nichts zu sehen und zu hören. Noch nicht.
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