Bereits 2018 erklärte Olaf Scholz, wie er die Wahl gewinnen will. Lars Haider verrät in seinem Buch, mit welchen Tricks ihm das gelang.

Der kürzeste Witz, der im Frühjahr 2021 im politischen Berlin erzählt wurde, ging so: „Olaf Scholz wird Bundeskanzler.“ Im Winter des Jahres wurde er es tatsächlich. Dies ist die Geschichte eines Politikers, der belächelt und als „Scholzomat“ verspottet wurde. Und der trotzdem fest daran glaubte, eines Tages Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden.

Spätestens seit dem Jahr 2018 hatte Olaf Scholz dafür einen Plan. Es war die Zeit, in der er Abschied von Hamburg nahm. Es waren seine letzten Tage als Erster Bürgermeister, bevor er Bundesfinanzminister und Vizekanzler in Berlin wurde und von Hamburg nach Brandenburg zog. Und es war der Beginn, aus heutiger Sicht darf man das so sagen, einer Legende. Der Legende, na gut: Geschichte davon, wie Olaf Scholz Kanzler werden könnte. Die Scholz-Story.

Damals, noch in Hamburg, hat er begonnen, sie zu erzählen, in Gesprächen mit Journalisten und politischen Freunden, die oft nicht glauben konnten, was sie hörten. Denn der Plan, den Scholz ihnen vortrug, klang weit hergeholt für einen, der bei SPD-Parteitagen von vielen nicht wie ein Genosse, sondern wie ein Gegner behandelt wurde. Und der in Hamburg gerade das G20-Debakel hinter sich gebracht und mit viel Mühe sowie einer öffentlichen Entschuldigung politisch überstanden hatte.

Olaf Scholz wusste, wann seine Stunde schlägt

In Kurzform ging die Scholz-Story so: Er wechsele nach Berlin, um sich dort in der großen Koalition neben Angela Merkel als wichtigstes Mitglied der Bundesregierung zu etablieren. Wenn Merkel nach der Legislaturperiode, im September 2021, nicht erneut kandidiere, würden viele Bürgerinnen und Bürger eine Sehnsucht nach jemandem haben, der ähnlich erfahren, kompetent und überhaupt so ähnlich sei wie die beliebte Kanzlerin.

In genau dieser Rolle sehe er sich, sagte Scholz. Und ahnte damals, 2018, voraus, was im Spätsommer des Jahres 2021 passieren würde. Dass die Menschen sich nämlich erst fünf, sechs Wochen vor der Wahl damit beschäftigen würden, dass die Ära Merkel nach 16 Jahren tatsächlich zu Ende geht. Und dass dann seine Stunde schlagen würde. Die Stunde des Olaf Scholz.

Olaf Scholz hat es ins Kanzleramt geschafft – auch wenn noch vor zwei Jahren kaum einer daran glauben wollte, auch nicht in der SPD.
Olaf Scholz hat es ins Kanzleramt geschafft – auch wenn noch vor zwei Jahren kaum einer daran glauben wollte, auch nicht in der SPD. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Dass es so gekommen ist, dass Scholz nicht nur Kanzlerkandidat der SPD wurde, sondern bei der Bundestagswahl sogar der Sieger, ist aus Sicht vieler Beobachter ein Wunder – und nährt heute den Respekt vor dem Mann, der genau diese Entwicklung herbeigeredet hat. All diejenigen, denen er 2018 und in den folgenden Jahren davon erzählt hat, hörten zwar höflich zu, dachten sich aber ansonsten ihren Teil. „Meinst du, dass er das selbst glaubt?“, hat mich mal ein Journalistenkollege gefragt. Und wahrscheinlich gemeint: Jetzt dreht er völlig durch.

Selbst als alle Meinungsforschungsinstitute wenige Wochen vor der Wahl die SPD vor der CDU sahen, teilweise mit fünf Prozentpunkten Vorsprung, glaubten im politischen Berlin viele daran, dass sich das noch mal dreht – oder dass die Umfragen schlicht falsch sind. „Wirst sehen“, sagte ein Berliner Chefredakteur zu mir. „In der Wahlkabine machen die Leute doch ihr Kreuz bei der CDU/ CSU. Sie trauen sich nur nicht, das öffentlich zu sagen.“

Der Bestsellerautor Robin Alexander („Machtverfall“) hatte die Lage mehrere Wochen vor der Wahl viel klarer analysiert. In meinem Podcast sagte er: „Viele Leute, die sich nicht jeden Tag mit Politik beschäftigen, werden sich für die Wahl erst kurz vor dem Wahltermin interessieren. Viele werden denken: Eigentlich sind wir mit der Merkel doch gut gefahren. Und dann sagt Annalena Baerbock: Ich bin auch eine Frau. Und Armin Laschet: Ich bin auch in der CDU. Und was sagt Olaf Scholz? Er sagt: Ich war ihr Finanzminister und Vizekanzler. Ich habe gezeigt, dass ich das kann.“

Der Kampf gegen die Pandemie brachte Scholz zurück ins Scheinwerferlicht

Das ist, in anderen Worten, die Geschichte, die Scholz und vor allem seine Vertrauten Wolfgang Schmidt und Steffen Hebestreit so lange und so oft erzählt haben, dass sie viele in Berlin schon nicht mehr hören konnten. Spätestens dann nicht, als Scholz’ Versuch, zusammen mit Klara Geywitz SPD-Vorsitzender zu werden, misslang. Das war Ende 2019. Und jeder andere Politiker hätte wahrscheinlich gesagt: Macht euren Kram allein. Wenn ihr mich nicht wollt, dann kriegt ihr mich eben nicht.

Scholz denkt anders. Für ihn sind Rückschläge kein Grund aufzugeben. Sie stacheln ihn an. Schon als Hamburger Bürgermeister hatte er die Eigenschaft, nach Niederlagen – etwa der gescheiterten Bewerbung um die Olympischen Sommerspiele 2024 – sofort zur Tagesordnung zurückzukehren. Das wirkte manchmal skurril, frei von jeglicher Empathie. Aber es ist Scholz’ Art. Er macht weiter, als wäre nichts gewesen.

Als Hamburger Innensenator 2001 auf einem Polizei-Motorrad.
Als Hamburger Innensenator 2001 auf einem Polizei-Motorrad. © picture-alliance/ dpa | Ulrich Perrey

Dass ihm das selbst nach dem verpatzten Duell um den SPD-Vorsitz gelungen ist, hat viel mit einer historischen Ausnahmesituation zu tun, die Scholz aber, auch wenn das zynisch klingen mag, geholfen hat. Der Kampf gegen die Corona-Pandemie brachte ihn zurück ins Scheinwerferlicht. Und anders als sonst fand er auf Anhieb plakative Worte („Bazooka“) für die Politik, mit der er wenigstens die wirtschaftlichen Folgen der Krise heilen wollte.

Dabei nutzte ihm natürlich, dass er vorher trotz vieler Begehrlichkeiten das staatliche Geld halbwegs zusammengehalten hatte, „für schlechte Zeiten“. Die waren nun, im März 2020, da – und der Finanzminister Scholz konnte, wie bei der Finanzkrise vor gut zehn Jahren der Arbeitsminister Scholz, zeigen, dass er sich mit all dem, „um das es geht und das jetzt wichtig ist“, wirklich auskennt.

Es ist schwer zu sagen, wie groß der Einfluss der Pandemie auf den Ausgang der Bundestagswahl gewesen ist, aber eins ist sicher: Sie hat Olaf Scholz in die Lage versetzt, an seine Legende anzuknüpfen und seinen Plan weiterzuverfolgen.

Scholz überwand seine Schüchternheit, auf Menschen zuzugehen

Der war sein größter Vorteil gegenüber Armin Laschet und Annalena Baerbock, der Spitzenkandidatin der Grünen. Weil Scholz davon überzeugt war, dass alles genauso kommt, wie es gekommen ist, konnte er sich und die Partei auf diese Situation lange und ausführlich vorbereiten. Das eigene Programm, die Ernennung zum Kanzlerkandidaten, die vom Hamburger Raphael Brinkert komponierte Werbestrategie, die Fotos und Farbe auf den Plakaten, die Slogans und wichtigsten Formulierungen: All das stand bei der SPD und Olaf Scholz mehr oder weniger schon fest, als die anderen Parteien noch nicht einmal ihre Kandidaten ausgewählt hatten.

Scholz konnte sich ausprobieren, er legte als Wahlkämpfer die Krawatte ab, er fing an, die Faust zu ballen, wenn er Reden hielt, er änderte die Tonlage. Er überwand die frühere Schüchternheit, auf Menschen zuzugehen, er zeigte den anderen Olaf Scholz, wenn er plötzlich in Interviews über Liebe zur Sozialdemokratie und zu seiner Frau Britta Ernst sprach und auf Entweder-oder-Fragen wie folgt antwortete: „Herz oder Verstand, Herr Scholz?“ „Herz natürlich.“

1984 auf dem Juso-Bundeskongress in Bad Godesberg.
1984 auf dem Juso-Bundeskongress in Bad Godesberg. © Wikipedia | Wikipedia

Die Kampagne der SPD wurde voll auf Olaf Scholz zugeschnitten. Die Idee hinter der Strategie: Je beliebter Scholz wird, je mehr Menschen sich vorstellen können, dass er Angela Merkel im Kanzleramt nachfolgt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die SPD in Umfragewerten mitzieht. Die Entwicklung begann ungefähr sechs Wochen vor der Wahl, auch das genauso, wie Scholz es angekündigt hatte.

Dabei war sein Plan gar nicht, mit der SPD vor der CDU/CSU zu landen. Er hat immer nur gesagt, dass es möglich sein könnte, „mit 20 Prozent plus x“ im Jahr 2021 Bundeskanzler zu werden. Und damit gemeint, dass er auf jeden Fall vor den Grünen sein muss, um dann mit denen und einem weiteren Partner eine Regierung zu bilden. Dass es anders gekommen ist, dass die SPD am Ende sogar die stärkste aller Parteien geworden ist, hat auch mit der viel beschriebenen Schwäche der Gegenkandidaten zu tun.

Olaf Scholz mochte es, wenn man ihn nach Angela Merkel fragte

Markus Söder wäre ein anderer Gegner gewesen, auch weil er das hat, was Olaf Scholz fehlt. Söder strahlt den Drang zur Macht aus und kann damit Menschen begeistern. Scholz hat diesen Drang, diesen Macht- und Gestaltungswillen zwar auch – und wie! –, aber man sieht es ihm etwa so sehr an, wie man Joe Biden angesehen hat, dass er amerikanischer Präsident werden wollte. Geworden ist er es bekanntlich trotzdem.

Scholz profitierte zudem davon, dass sein wichtigstes Thema eines der dominierenden im Wahlkampf war. Soziale Gerechtigkeit, SPD-Übersetzung: sozialer Respekt, tauchte in einigen Wahlumfragen in der Bedeutung sogar vor der Klimakrise auf. Und dass es deshalb einen inhaltlichen Wechsel braucht, gleichzeitig personelle Kontinuität, zumindest was die Eigenschaften eines Kanzlers angeht. Der sollte möglichst so sein wie Merkel: klug, besonnen, erfahren und belastbar. Das sind Adjektive, mit denen die SPD für Scholz geworben hat.

Wochen vor der Bundestagswahl reiste Olaf Scholz nach Paris, um sich mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu treffen.
Wochen vor der Bundestagswahl reiste Olaf Scholz nach Paris, um sich mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu treffen. © imago images/Eventpress | Eventpress MP via www.imago-images.de

Er mochte es sehr, wenn man ihn im Wahlkampf nach Angela Merkel fragte. Erstens, weil er die Kanzlerin anders als Armin Laschet frei heraus loben. Und zweitens, weil er jedes Mal seinen Lieblingssatz sagen konnte. Nämlich, dass er mit Merkel „sowohl als Arbeitsminister als auch als Erster Bürgermeister und zuletzt als Vizekanzler sehr gut zusammengearbeitet“ hat. Arbeitsminister! Bürgermeister! Vizekanzler! Das hieß drei Mal: Ich habe bewiesen, dass ich es kann.

Scholz konnte auf seine Leistungen verweisen

Wer aber etwa sein Wirken als Hamburger Bürgermeister auf das Treffen der Staats- und Regierungschefs bei G20 im Jahr 2017 beschränkt, dessen Verlauf er tatsächlich völlig falsch eingeschätzt hat, oder auf eine bis heute nicht bewiesene Rolle im Cum-Ex-Skandal, tut ihm unrecht. Scholz war es, der das Drama um den Bau der Elbphilharmonie zu einem guten Ende brachte und der endlich anfing, in Hamburg Wohnungen im großen Stil bauen zu lassen. Scholz setzte kostenlose Kitas und Ganztagsschulen durch, machte Hamburg zu einer der attraktivsten Städte in Europa.

Nun ist er wirklich Kanzler. Olaf Scholz. Der auch wegen des Hamburgers Helmut Schmidt in die SPD eingetreten ist und heute gern mit ihm verglichen wird. Der nicht wie Gerhard Schröder, ein Förderer und Mentor, am Zaun des Kanzleramtes gerüttelt hat, aber lange wusste, dass er genau dort hineinwill. Wer ihn, wie ich, im vergangenen Jahrzehnt häufig getroffen und oft erlebt hat, ist am Ende gar nicht so überrascht davon, wie alles gekommen ist.

Es wirkt fast selbstverständlich, eben weil man es so oft gehört hat. Um es mit einem Lieblingsbegriff der Berliner Politik-Blase zu sagen: Wenn es jemals ein Narrativ gegeben haben sollte, das diesen Namen wirklich verdient hat, dann ist es die Geschichte, die Olaf Scholz allen erzählt hat.