Kabul/Oberhausen. Die Hilfsorganisation Friedensdorf pflegt Jungen und Mädchen aus Kriegsgebieten. Mit einem Flugzeug reisen 27 Kinder nach Deutschland.

Unten türmt sich der Hindukusch auf, aus den Schatten der tief eingeschnittenen Täler wachsen Berge in die Höhe. Der Gebirgsrücken ist bedeckt von Schnee. Es taucht ein ockerfarbenes Plateau auf, das von oben an ein zerfurchtes und von Narben bedecktes Stück Leder erinnert, und dann breitet sich Kabul unten aus. Auch von oben sieht die afghanische Hauptstadt grau und staubig und müde aus.

Sayed hat sich schon vor einiger Zeit die schwarz-weiße Pudelmütze und die dicke graue Jacke angezogen. Er starrt aus dem Fenster des Flugzeugs nach draußen. Nach eineinhalb Jahren wird der Achtjährige seine Eltern wiedersehen. Er kehrt in ein Land zurück, das anders ist, als er es verlassen hat.

Flug nach Afghanistan: Zwischen Vorfreude und Angst vor den Taliban

Sayed ist eines von acht Kindern an Bord des Air-Explore-Airbus, gechartert vom Friedensdorf International, einer Hilfsorganisation, die verletzte und kranke Kinder aus Ländern wie Afghanistan, Angola, Usbekistan oder Tadschikistan zur Behandlung nach Deutschland holt.

Seit der Machtübernahme der Taliban Mitte August ist die slowakische Airline die erste europäische Fluggesellschaft, die Kabul ansteuert. Auf dem Flug dabei sind Claudia Peppmüller, die Sprecherin der Hilfsorganisation, Krankenpflegerin Franka Gessenhart und die Berliner Ärztin Jenny Becker.

An Bord herrschen beim Anflug Anspannung und Aufregung. Die Kinder freuen sich darauf, ihre Verwandten nach so langer Zeit wieder in die Arme nehmen zu dürfen. Die Crew und die Mitarbeiterinnen des Friedensdorfes wissen nicht, was sie am Boden erwartet. Auf dem Rückweg wollen sie 27 Kinder mit nach Deutschland nehmen. Werden die Taliban Ärger machen?

„Die Taliban mögen es nicht, wenn sie deine Haare sehen, deswegen machst du das da rum“, sagt Sayed zu Claudia Peppmüller, als sie sich einen Schal um den Kopf schlingt. Es ist das erste und einzige Mal, dass eines der Kinder den Namen der neuen Machthaber in ihrer Heimat ausspricht.

Airport in Kabul: Seit Mitte August keine regulären Flüge mehr

Sayed ist gewitzt, ein schlaues Kind, er spricht die afghanischen Sprachen Paschtu und Dari, dazu Usbekisch, einige Brocken Englisch, Portugiesisch und Arabisch, und fast fließend Deutsch. Kann man Kinder wie ihn jetzt nach Afghanistan zurückschicken? „Wir können Kinder nicht dauerhaft von ihren Eltern trennen“, sagt Peppmüller. Auch sie ist nervös. Im August ist sie mit einer Evakuierungsmaschine der Bundeswehr aus Kabul ausgeflogen worden.

Die Maschine setzt auf, rollt aus, vorbei an einigen wenigen Flugzeugen von Kam Air und Ariana. Abgesehen von den Maschinen der beiden afghanischen Fluggesellschaften ist der Airport von Kabul verwaist. Hier heben seit dem 15. August keine regulären Flüge mehr ab, auch weil es so gut wie kein geschultes Personal für den Tower gibt.

Auch die afghanischen Flugzeuge gehen nur noch allenfalls sporadisch heraus, heißt es, der Preis für einen Flug nach Pakistan hat sich verzehnfacht. Alles ist um ein Vielfaches teurer geworden, seit die Taliban die Macht übernommen haben. Hintergrund: Kabul - Chaos am Flughafen – „Kinder werden zertrampelt“

Schon vor dem Machtwechsel Mitte August herrschte in Afghanistan bittere Not. Große Teile des Landes litten unter einer katastrophalen Dürre, die Corona-Krise verschlechterte die Wirtschaftslage und trieb die Arbeitslosigkeit in die Höhe. Jetzt hat sich die Situation noch mal verschärft.

Fast 23 Millionen Menschen werden in diesem Winter akut von Hunger bedroht sein, haben das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) und die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) kürzlich in einem Bericht gewarnt.

Taliban wollen „positive Beziehungen mit der Welt“

Am Terminal geben sich die neuen Machthaber betont freundlich: „Das Islamische Emirat von Afghanistan möchte friedliche und positive Beziehungen mit der Welt“, steht auf dem Gebäude, vor dem die weißen Fahnen der Taliban wehen. Einige der Islamisten stehen davor, beäugen die Szenerie. Auch die einheimischen Partner der deutschen Helfer warten bereits auf dem Vorfeld, Männer vom afghanischen Roten Halbmond.

Unter ihrem Mundschutz erkennt man die Bärte, die in den vergangenen Monaten gewachsen sind. „Geht es euch gut?“, fragen die Deutschen. „Alles okay“, sagt Doktor Marouf, ein Arzt in den Sechzigern, seine Hand zittert, als er Unterlagen entgegennimmt.

Menschen in Afghanistan benötigen humanitäre Hilfe – Währung kollabiert

In den vergangenen Wochen haben er und seine Leute mit den Taliban verhandelt, damit die Arbeit des Friedensdorfes weitergehen kann. Das Land ist dringender denn je auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die deutschen Helfer haben deshalb auch Medikamente und Winterkleidung an Bord des Flugzeugs.

Die Not hat bereits die großen Städte wie Kabul und Herat erreicht. Die Preise für Lebensmittel sind explodiert, viele Angestellte in staatlichen Behörden erhalten seit Monaten keine Löhne mehr, der Wert der afghanischen Währung ist kollabiert, die Geldautomaten der Banken spucken nur noch maximal 200 Afghani aus, umgerechnet knapp zwei Euro. Erst vor wenigen Tagen soll eine neunköpfige Familie in einem Kabuler Park an Entkräftung gestorben sein, berichtet ein einheimischer Kontakt.

Reporter Jan Jessen (r.) mit Kindern und Helferinnen im Flughafen von Kabul.
Reporter Jan Jessen (r.) mit Kindern und Helferinnen im Flughafen von Kabul. © Jan Jessen | Jan Jessen

Sayed und die anderen Kinder stapfen die Gangway hinunter, gehen in den Bus, der sie aus dem Flughafen heraus zu ihren Eltern bringen wird. Davor warten die 27 Kinder, die nach Deutschland mitgenommen werden sollen. Die deutschen Helfer haben sie in den Tagen vor der Machtübernahme der Taliban ausgesucht, viele stammen aus entlegenen Provinzen. Lesen Sie hier: Chefin der Asylbehörde - Deutlich mehr Asylbewerber in der EU

Hungrige, verletzte Kinder werden nach Deutschland geflogen

Manche der Kinder haben Verbrennungen erlitten, können wegen der Narbenverwachsungen ihre Arme nicht mehr richtig bewegen oder haben Pro­bleme zu essen, andere leiden unter schweren Knochenentzündungen. Ihre Kleidung ist abgerissen, die Gesichter, Hände und Füße starren vor Dreck. Viele scheinen in den vergangenen Monaten draußen gelebt zu haben.

Unter den Kindern ist auch Ruqia, ein fünfjähriges Mädchen aus dem Bezirk Zinda Jan in Herat im Westen des Landes. Sie hat sich vor einem Jahr den Arm gebrochen, wurde operiert, jetzt quält sie eine Fistel im Ellenbogen. Ruqias Haare sind strohig, die Augen groß, ihre Hände hat sie zu Fäusten geballt.

Nach einer Stunde Aufenthalt auf dem Kabuler Airport hebt das Flugzeug wieder ab. Krankenschwester Gessenhart und Ärztin Becker beginnen, Fieber zu messen und Verbände zu wechseln. Kurze Zeit nach dem Start der Maschine führen die ersten Kinder die Hände zum Mund. Es ist ein Zeichen, das ihnen die Männer vom Roten Halbmond beigebracht haben. Es bedeutet: „Ich habe Hunger.“