Brüssel. Keiner kennt die Kanzlerin auf EU-Ebene so gut wie Jean-Claude Juncker. Hier erzählt er: Wie war Merkel in Brüssel, was bleibt von ihr?

Die scheidende Kanzlerin Angela Merkel gilt als heimliche Chefin Europas, die in vielen EU-Staaten bis heute große Popularität genießt. Wie kam es dazu? Jean-Claude Juncker, der mit Merkel fast 14 Jahre auf EU-Ebene zusammenarbeitete und sie seit 30 Jahren kennt, blickt im Interview mit unserer Redaktion zurück: Was Merkels Erfolg in Europa ausmacht, wie sie gestritten haben, warum er sie schätzt und was von ihrer Europapolitik bleibt.

Der EU-Kommissionspräsident von 2014 bis 2019 und frühere Luxemburger Premier sagt: „Ich mochte sie von Anfang an.“ Und: „Wir sind ja fast wie ein altes Ehepaar“. Nach dem Ende von Merkels Amtszeit sei Deutschland unverrückbar ein Europa freundlich zugewandtes Land, meint der 66-jährige Christdemokrat. „Es kann nach ihr keine antieuropäische Politik geben“.

Herr Juncker, wie lange kennen Sie die scheidende Kanzlerin Merkel schon?

Ich habe sie Anfang der 90er Jahre kennengelernt im EU-Rat der Arbeitsminister, an dem sie als damals noch neue Bundesfamilienministerin teilgenommen hat, weil es um Jugendpolitik ging. Sie hat sofort den Eindruck gemacht, dass sie detailfest war und wusste, worüber sie redet. Damit hat sie sich gleich Respekt verschafft. Ich mochte sie von Anfang an.

Woran erinnern Sie sich besonders, was hat Sie beeindruckt?

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie wir später bei einem EU-Gipfel in Berlin vor dem Brandenburger Tor standen und sie zu mir sagte: Hier hörten alle meine Wege auf. Das hat mich sehr beeindruckt, es zeigte, dass ein größerer Teil ihrer Vita außerhalb Westeuropas stattfand. Sie kommt ja aus Ostdeutschland, worüber sie aber nie viel Aufhebens gemacht hat, übrigens auch nicht darüber, dass sie die erste Frau im Kanzleramt ist.

Was zeichnet ihren Stil aus?

Sie hat immer im Detail argumentiert, sie hat beeindruckt durch Wissen – was im Kreis der Regierungschefs nicht immer der Fall ist. Sie hat mich immer beeindruckt durch einen feinen Auftritt. Sie war stets bereit zuzuhören, sie hat alle ernst genommen. Sie hat auch im Europäischen Rat der Regierungschefs niemals das Gefühl vermittelt, dass kleine Staaten weniger wichtig sind als die großen, sie hat mit allen auf Augenhöhe gesprochen. Das erklärt auch zum Teil ihren Erfolg in Europa. Sie war für jeden da. Lesen Sie auch: Merkels First Husband: Joachim Sauer und sein "Experiment"

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, begrüßen sich bei einem EU-Gipfel in Brüssel 2018.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, begrüßen sich bei einem EU-Gipfel in Brüssel 2018. © dpa | YVES HERMAN

Das ist etwas, was vor ihr Helmut Kohl ähnlich gemacht hat…

Ja, sie hat sich wohl von Helmut Kohl abgeschaut, dass man sich in Europa in die nationalen Befindlichkeiten der anderen hineindenken sollte. Sie wusste immer, was in den Mitgliedstaaten los war – in der Runde der Regierungschefs war ihr also stets bewusst, was der innenpolitische Hintergrund war, wenn jemand diese oder jene Position vertrat.

Haben Sie sich eigentlich nie gestritten?

Wir sind ja nach so langer Zeit fast wie ein altes Ehepaar. Wir haben manchmal gestritten, wie das in einer guten Ehe gelegentlich passiert. Aber sie hat nie aus momentanen Meinungsverschiedenheiten einen persönlichen Konflikt gemacht. Sie war schon Freundin einer klaren Meinung, konnte aber zuhören. Dann hat sie ihre Position auch schon mal verändert, um die gesamteuropäische Lage zu berücksichtigen – wenn auch manchmal zögernd. Sie hat aber nie mit der Faust auf den Tisch geschlagen, als deutsche Regierungschefin ist das allerdings auch gar nicht notwendig.

Wie war das bei den beiden Großkrisen – der Euro- und später der Flüchtlingskrise?

In der Eurokrise war Frau Merkel beim Umgang mit Griechenland schon sehr zögernd. Sie musste viele Hindernisse in ihrer CDU und auch in der deutschen Öffentlichkeit überwinden. Aber sie hat sich nie den Stimmen in Deutschland angeschlossen, die Griechenland aus der Eurozone ausscheiden lassen wollten. Sie hat am Ende Verständnis gehabt, dass die Kommission sich um Griechenland bemüht hat – einige in ihrem Kabinett waren ja der Meinung, die Kommission solle sich da heraushalten …

...vor allem der damalige Finanzminister Schäuble...

aber ich war der Auffassung, dass wir nach dem EU-Vertrag im Interesse der EU zum Handeln verpflichtet waren. Das hat Frau Merkel akzeptiert und nach vielen Bedenken an konstruktiven Lösungen mitgewirkt.

Und die Flüchtlingskrise?

Die Flüchtlingskrise war ein schwieriger Moment in ihrer Regierungszeit. Sie hat die Grenzen zwar nicht geöffnet, die waren schon offen, aber sie hat die Grenzen auch nicht geschlossen. Denn das hätte zu endlosen Problemen in der EU geführt. Sie hat damit gezeigt, dass sie eine Staatsfrau ist. Politische Führer zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie auf der Welle der Stimmungen schwimmen, sondern wissen, dass man manchmal auch gegen Stimmungen handeln muss. Das hat sie getan, und das war richtig. Lesen Sie auch:Juncker nennt Grenzkontrollen "Irrfahrt"

Was war Merkels größter Erfolg auf EU-Ebene?

Es gibt auf europäische Ebene nicht Erfolge, die nur ihr zuzurechnen wären. Aber sie gehörte immer zum Kreise derer, die tragfähige europäische Lösungen mitformuliert haben.

Was bleibt von der Kanzlerin in Europa?

Sie hat nach ihren Vorgängern Helmut Kohl und Gerhard Schröder deutlich gemacht, dass die europäische Integration Teil der deutschen Staatsräson ist. Das bleibt. Was gut für Europa ist, ist gut für Deutschland. Nach Merkel ist Deutschland unverrückbar ein Europa freundlich zugewandtes Land, es kann nach ihr keine antieuropäische Politik geben. Ob Olaf Scholz oder Armin Laschet Kanzler wird, beide stehen da in der Nachfolge.