Berlin. Bundeswahlleiter Georg Thiel über die Bundestagswahl in der Pandemie – und über Behauptungen, die Briefwahl könne manipuliert werden.

Inmitten der vierten Corona-Welle findet an diesem Sonntag die Bundestagswahl statt. In 299 Wahlkreisen sind rund 60.000 Wahllokale geöffnet. Die Pandemie führt dazu, dass es bei dieser Wahl etliche Besonderheiten gibt – unter anderem wohl so viele Briefwahlstimmen wie nie zuvor.

Deutschlandweit einheitliche Hygienestandards oder eine Corona-Testpflicht für Wahlhelferinnen und -helfer in den Wahllokalen gibt es dagegen nicht, sagt Bundeswahlleiter Georg Thiel im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Bundestagswahl fällt mitten in die Corona-Pandemie. Welche Auswirkungen hat das auf die Abstimmung?

Georg Thiel: Durch die Pandemie wird der Anteil der Briefwähler deutlich steigen. Wir gehen von einer Verdopplung gegenüber der Bundestagswahl 2017 aus. Damals nutzten gut 13,4 Millionen Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit der Briefwahl. Das entsprach im Bundesdurchschnitt einer Quote von 28,6 Prozent an allen Wählerinnen und Wählern. Es war der bisherige Höchststand seit Einführung der Briefwahl im Jahr 1957. Ich denke, wir werden in jedem Fall über 40 Prozent kommen.

Worauf stützt sich Ihre Prognose?

Thiel: Die Landtagswahlen Mitte März in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie in Sachsen-Anhalt Anfang Juni haben gezeigt, dass in der Pandemie mehr Menschen per Brief ihre Stimme abgeben. Auch Abfragen in den Großstädten weisen darauf hin, dass es am kommenden Sonntag erneut in diese Richtung gehen dürfte.

Wahlhelfer sortieren in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle Briefwahlunterlagen, bevor die Auszählung beginnt.
Wahlhelfer sortieren in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle Briefwahlunterlagen, bevor die Auszählung beginnt. © picture alliance/dpa | Thomas Frey

Regional gab es bereits bei der Bundestagswahl 2017 große Unterschiede. In einigen Wahlkreisen lag der Anteil der Briefwähler damals bei 45 Prozent, in anderen waren es nur 13 bis 15 Prozent. Wir haben zudem gesehen, dass es Unterschiede gibt zwischen West und Ost. Die Wählerschaft in den fünf ostdeutschen Ländern nutzt die Briefwahl seltener.

Ihre Wahlanalyse von 2017 zeigt, dass damals besonders CDU und CSU viele Briefwähler hatten, vor allem im Alter über 70. Wird es diesmal ähnlich?

Thiel: Da wage ich keine Vorhersage, erst recht nicht in einer Pandemie, wo ja vieles anders läuft. Das wird sich nach der Wahl zeigen. Ich bin kein Demoskop, das ist das Spezialgebiet von anderen.

Die Briefwahl wird immer wieder kritisiert. Können Briefwahlergebnisse manipuliert werden?

Thiel: Nein, die Briefwahlstimmen werden genauso ausgezählt wie die direkt im Wahllokal abgegebenen Stimmen. Anders als in den USA beginnt die Stimmauszählung einheitlich am Wahltag um 18 Uhr. Berücksichtigt werden alle Stimmen, die bis dahin abgegeben wurden – ob per Brief oder an der Urne.

Was später kommt, bleibt unberücksichtigt, sodass wir in der Wahlnacht noch ein vorläufiges Ergebnis verkünden können. Im Übrigen ist die Auszählung aller Stimmen durch die Wahlvorstände öffentlich, es kann also jede oder jeder dabei zusehen und sich davon überzeugen, dass alles korrekt abläuft. Diese Transparenz ist eine wichtige Voraussetzung für die demokratische Legitimität des Wahlergebnisses.

Was bedeutet die vermehrte Briefwahl für die Organisation der Bundestagswahl?

Thiel: Es bedarf mehr Vorbereitung. Es müssen in kürzerer Zeit mehr Unterlagen zu den Wählern und wieder zurück zu den Urnen gebracht werden. Und am Wahltag selbst dauert die Auszählung wegen der Zunahme der Briefwahlstimmen länger. Zudem brauchen wir größere Räume, um die gestiegene Menge an Briefen auszuzählen. Und wir müssen dafür mehr Wahlhelferinnen und -helfer abstellen, die sonst an der Urnenauszählung beteiligt gewesen wären.

Gab es in der Pandemie Schwierigkeiten, ausreichend Wahlhelfer zu finden?

Thiel: Nein, glücklicherweise nicht. Wir hatten anfangs große Befürchtungen. Aber es hat sich gezeigt, dass die Bereitschaft trotz Corona immer noch sehr groß ist. Insgesamt werden es bundesweit zwischen 650.000 und 700.000 Helfer sein. Und ihr Engagement ist ihnen hoch anzurechnen. Denn der Sonntag wird für sie ein langer Tag werden.

Ist eine Voraussetzung für Wahlhelferinnen und Wahlhelfer, dass sie geimpft oder negativ getestet sind?

Thiel: Nein. Sie müssen die Hygiene- und Abstandsregeln einhalten und – in den allermeisten Ländern – eine Maske tragen. Eine Impfung, ein Genesungsnachweis oder ein Negativtest ist nur dort Voraussetzung, wo keine Maskenpflicht besteht.

Zwar haben wir den Landes- und Kreiswahlleitern, die das vor Ort letztlich entscheiden, nahegelegt, für hohe Schutzstandards zu sorgen. Wir können sie aber nicht zu bestimmten Maßnahmen verpflichten. Maßgeblich sind letztlich die jeweiligen Corona-Landesverordnungen. Der Bundeswahlleiter kann allenfalls zusätzliche Empfehlungen aussprechen.

Wählerinnen und Wähler können also nicht davon ausgehen, dass ihnen im Wahllokal nur Geimpfte oder negativ Getestete als Helfer begegnen?

Thiel: Nein, das können sie leider nicht. Wir haben das ausführlich diskutiert. Es ist eine Abwägung. Aber ich gehe davon aus, dass es in den Wahllokalen ausreichend Masken und Schnelltests für die Helferinnen und Helfer geben wird, um sich und andere zu schützen.

Gibt es Vorgaben, wie viele Wählerinnen oder Helfer sich gleichzeitig in einem Wahllokal aufhalten dürfen?

Thiel: Das gibt es auch nicht. Es kommt ja sehr auf die Gegebenheiten vor Ort an. Einige Kreiswahlleiter haben das Wahllokal beispielsweise in größere Räume wie Turnhallen verlegt, um mehr Abstand zu ermöglichen. Aber es kann auch zu Ansammlungen etwa in Warteschlangen kommen. Das sollte möglichst vermieden werden. Ich setze jedoch darauf, dass nach anderthalb Jahren Pandemie alle wissen, welches Verhalten in so einer Situation angezeigt ist.

Was passiert, wenn Menschen das Wahllokal ohne Maske betreten?

Thiel: Das Recht, zu wählen, ist ein Grundrecht, es wird für keinen Wahlberechtigten eingeschränkt. Aber es gilt bundesweit eine Maskenpflicht aufgrund der jeweiligen Corona-Verordnungen in den einzelnen Bundesländern. Und die schützt alle Anwesenden im Wahllokal. Damit wird aus meiner Sicht die Verhältnismäßigkeit gewahrt.

Im Einzelfall kommt es bei der Umsetzung der Hygiene- und Abstandsregeln auf die Gegebenheiten vor Ort an. Die zurückliegenden Landtagswahlen haben aber gezeigt, dass Probleme zum Beispiel mit Maskenverweigerern sehr selten auftreten. Wahlen sind keine Superspreader-Ereignisse.

Gehen Sie davon aus, dass Menschen wegen Corona nicht wählen gehen?

Thiel: Nein. Wir hatten auch bei den zurückliegenden Landtagswahlen keine signifikanten Abweichungen bei der Wahlbeteiligung, trotz Pandemie. Ich denke, das wird bei der Bundestagswahl ähnlich sein.

Wie bewerten Sie die jüngste Gerichtsentscheidung, wonach das Meinungsforschungsinstitut Forsa Befragungsergebnisse zu bereits getroffene Wahlentscheidungen von Briefwählern vor dem Wahltag veröffentlichen darf?

Thiel: Die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes nehme ich zur Kenntnis. Der Gesetzgeber sollte die Entscheidung nun bewerten und gegebenenfalls klarstellend tätig werden.

Aus meiner Sicht stellt die Veröffentlichung von Umfragen vor Ablauf der Wahlzeit einen Verstoß gegen das Bundeswahlgesetz dar – egal ob dabei Wählerinnen und Wähler nach ihrem Gang an die Urne nach Ihrer Wahlentscheidung gefragt werden oder Briefwählerinnen und Briefwähler. Mit dieser Auffassung stehe ich ja auch nicht alleine, wie die Diskussionen in Fachkreisen und Medien zeigen.

Kürzlich hat es einen Hackerangriff auf die Homepage des Bundeswahlleiters gegeben. Die Internetseite war daraufhin kurzzeitig außer Betrieb. Gehen Sie davon aus, dass es am Sonntag ähnliche Attacken gibt?

Thiel: Der Ausfall in der vorletzten Woche betraf unsere Webseite, nicht die Systeme für die Ermittlung des Wahlergebnisses. Sollte dies am Sonntag erneut passieren, könnte es sein, dass den Medien für kurze Zeit keine aktualisierten Ergebnisse zur Bundestagswahl zur Verfügung stehen. Wir haben allerdings Vorkehrungen getroffen und unsere Sicherheitskomponenten nach der jüngsten Erfahrung entsprechend erweitert und verbessert. Daher bin ich guter Dinge, dass eine solche Störung nicht mehr auftritt.

Ist es in Zeiten von Cyberangriffen ein Vorteil, dass Wahlstimmen in Deutschland nach wie vor von Hand ausgezählt werden?

Thiel: Ja, so kann man es sehen. Bei der Auszählung von Bundestagswahlen ist das Analoge tatsächlich noch ein Vorteil.