Berlin. Innenminister Horst Seehofer (CSU) rechnet mit bis zu fünf Millionen Menschen, die Afghanistan verlassen. Droht eine Lage wie 2015?
Mit seiner Vorhersage wird Horst Seehofer (CSU) schon richtig liegen. 300.000 bis fünf Millionen Menschen aus Afghanistan würden nach der Machtübernahme der Taliban die Flucht ergreifen, warnte der Bundesinnenminister in einer Schaltkonferenz mit den Chefs der Bundestagsfraktionen.
An der Bandbreite der Prognose und am Fehlen einer Zeitschiene erkennt man die Unsicherheit, Seehofer bleibt horoskophaft ungenau. Realer als gegriffene Zahlen sind die Sorgen vor einem neuen „2015“.
Die Jahreszahl ist ein Synonym für den Kontrollverlust in der Migrationspolitik, als es „keine Lenkung“ gegeben habe, wie CSU-Chef Markus Söder beklagt. 2015 machten sich Hunderttausende Syrer auf den Weg nach Europa. So weit sollen die Afghanen nicht kommen.
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Die Afghanistan-Krise befeuert die Sorge vor einem neuen „2015“
„Wir müssen jetzt das tun, was wir in der Vergangenheit oft nicht richtig gemacht haben“, mahnt Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) – nämlich dafür sorgen, „dass die Flüchtlinge, die oft ja in den Nachbarländern Schutz gefunden haben, dort auch Integrationsperspektiven entwickeln“.
Ein Fehler im Jahr 2015 war, dass die internationale Gebergemeinschaft die Finanzierung von Aufnahmelagern in der Krisenregion vernachlässigt hatte.
Der Außenpolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) ist der Meinung, „dass Europa eine abgestimmte Flüchtlingspolitik mit den Nachbarländern Afghanistans betreiben muss, auch mit dem Iran“. Das schließe den Aufbau großer Flüchtlingszentren ein, „vielleicht von der Uno geleitet und von der EU finanziert“.
Die Angst vor dem Emirat treibt Hunderttausende in die Flucht
Ein islamisches Emirat macht Angst. Bereits vor dem Machtwechsel wurde die Zahl der Binnenflüchtlinge auf 390.000 Menschen geschätzt. Nun wollen sie erst recht fliehen. Darauf lassen die Bilder der Verzweiflung am Flughafen Kabul schließen.
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Auch die Erfahrungen im Vietnam-Krieg legen die Vermutung nahe. 1975 zogen die Amerikaner so chaotisch wie heute aus Afghanistan ab, schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen wagten aus Angst vor Repressalien des siegreichen kommunistischen Regimes die Flucht über das Meer.
Von diesen „Boatpeople“ kann man für die heutige Situation zumindest eine Erfahrung übertragen: Wenn sie um ihr Leben fürchten, nehmen die Menschen jedes Risiko in Kauf und jeden noch so beschwerlichen Fluchtweg auf sich, auch die 4500 Kilometer von Kabul bis Istanbul.
Merkel beklagt das Fehlen einer gemeinsamen EU-Flüchtlingspolitik
Davon geht auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aus. „Viele Menschen werden versuchen, das Land zu verlassen“, sagte sie vor der CDU-Spitze. Das Thema werde uns „sehr lange beschäftigen“. Vor einem Gespräch mit UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi klagte sie, „es ist eine Schwachstelle unserer Europäischen Union, dass wir keine gemeinsame Asylpolitik bis heute geschafft haben“.
Im Gespräch ist nun, dass die westlichen Staaten ein Kontingent von bis zu 20.000 Menschen aufnehmen, über die sogenannten Ortskräfte der westlichen Staaten hinaus, etwa auch Menschenrechtsaktivisten.
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Schon bald dürfte die Luftbrücke über den Kabuler Flughafen geschlossen werden. Es ist unklar, wann und wie der zivile Luftverkehr aufgenommen wird und welche Grenzpolitik die Taliban an den Landübergängen verfolgen werden.
Bisher gab es zwei Fluchtrouten – eine nach Norden, eine nach Süden
In der Vergangenheit bildeten sich zwei Fluchtrouten heraus, Richtung Süden nach Pakistan oder nach Norden in den Iran – mit der Perspektive Türkei. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR registrierte in Pakistan über 1,4 Millionen und im Iran 780.000 Flüchtlinge. Die tatsächliche Zahl dürfte doppelt so hoch sein.
Das UNHCR schätzt, dass täglich 4000 bis 5000 Menschen die Grenze in den Iran passieren. Zuletzt kündigte die Regierung zusätzliche Flüchtlingslager in drei Grenzprovinzen an.
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Die Afghanen werden es schwerer haben als die Syrer 2015
Schon bisher haben Menschen versucht, zumeist illegal weiterzuziehen, quer durch den Iran bis zur türkischen Grenze, an der Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Mauer errichten lässt. Wie der Iran hat die Türkei mit internen Problemen zu kämpfen, beide stemmen sich gegen den Migrationsdruck.
Die Geflüchteten werden auch in Westeuropa auf Barrieren stoßen, in der Ägäis oder am griechisch-bulgarisch-türkischen Grenzfluss Evros. Die Abschottung macht eine Flucht „noch riskanter und teurer“, so der Migrationsforscher Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
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Die Afghanen werden es schwerer haben als die syrischen Flüchtlinge. Dennoch geht Außenpolitiker Kiesewetter davon aus, „dass mehr Afghanen den Weg Richtung Türkei suchen werden“.
Tausende Flüchtlinge schaffen es bis Deutschland
Das Land beherbergt gut vier Millionen Migranten, etwa eine halbe Million aus Afghanistan. Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen überqueren jeden Tag 1000 afghanische Geflüchtete die Grenze in die Türkei. Nicht wenige von ihnen schaffen es bis Deutschland.
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Nachdem die Nato ihren Kampfeinsatz beendet hatte, versuchten 2016 über 20.000 Afghanen illegal nach Deutschland zu kommen. Die meisten reisten nach Angaben der Bundespolizei mit dem Auto, Bus und „zunehmend auch Lkw“ ein und wurden an der Grenze nach Österreich aufgegriffen.
Ihre Zahl pendelte sich in den Folgejahren bei 3000 ein. 2020 waren es 3256. Viel mehr, nämlich 4294, waren es in den ersten sechs Monaten dieses Jahres. Sie nahmen den endgültigen Abzug der Alliierten vorweg.