Washington. Der hastige Abzug seiner Armee aus Afghanistan könnte zum Super-GAU für den US-Präsidenten werden. Ein Fan des Einsatzes war er nie.

Ryan Crocker kennt Joe Biden in- und auswendig. Als Biden Vizepräsident unter Obama war, hielt Crocker als US-Botschafter in Kabul die Stellung. Darum ist das Urteil des 72-Jährigen über das Desaster in Afghanistan so verheerend für Amerikas Präsidenten. „Ich denke, es ist vernichtend für ihn, mit seiner ersten bedeutsamen Entscheidung als Commander-in-Chief diese Situation geschaffen zu haben. Es ist ein unerzwungener Fehler. Das Chaos war vermeidbar.”

Was Crocker sagt, wird mit jeder Fernsehsequenz über die eskalierende Lage in Kabul Mehrheitsmeinung im politischen Washington. Joe Biden hat hier mit seinem Hau-Ruck-Exit aus Afghanistan Bestürzung ausgelöst. Und Zweifel an seinem Urteilsvermögen.

US-Präsident Joe Biden: „Nicht unser Problem“

So wird gerade ein Zitat aus den Aufzeichnungen des früheren Sonder-Botschafters Richard Holbrooke herumgereicht, der Biden im Jahr 2010 zu mehr Engagement gerade für Frauen und Mädchen in Afghanistan bewegen wollte. Biden, damals Vize, habe barsch abgelehnt und sinngemäß gesagt: „Scheiß drauf, das ist doch nicht unser Problem.”

Fakt ist: Biden ließ den Turbo-Durchmarsch der Taliban ohne jede militärische Intervention geschehen. Sein Motto lautete: Wenn die von uns ausgebildete nationale Armee der Afghanen nicht kämpfen will oder kann, bitteschön, nach 20 Jahren nicht mehr unsere Sache. Zeitgleich ließ er das Ausfliegen der Amerikaner aus der US-Botschaft mit rund 6000 Soldaten absichern. „Biden flieht aus Afghanistan wie ein Angsthase”, sagen Kritiker im Kongress.

US-Präsident Joe Biden entschied als Commander-in-Chief, so schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen. Seine erste bedeutsame Entscheidung als Oberkommandierender der US-Streitkräfte gilt Kritikern als „unerzwungener Fehler“.
US-Präsident Joe Biden entschied als Commander-in-Chief, so schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen. Seine erste bedeutsame Entscheidung als Oberkommandierender der US-Streitkräfte gilt Kritikern als „unerzwungener Fehler“. © AFP | NICHOLAS KAMM

Die Republikaner sprechen von einer „amerikanischen Kapitulation“

Dazu gehört Liz Cheney. Die Tochter des früheren US-Vize-Präsidenten Dick Cheney bilanzierte schonungslos, was der überhastete Truppenabzug ausgelöst hat: „Das ist nicht die Beendigung endloser Kriege. Das ist eine amerikanische Kapitulation, die unsere Feinde stärkt und dafür sorgt, dass unsere Kinder und Enkelkinder diesen Krieg zu viel höheren Kosten kämpfen müssen”, sagte die republikanische Kongress-Abgeordnete.

Ihr Parteikollege Mitt Romney hält die Art und Weise des Abzugs für einen „unschätzbaren Schlag für die Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit und Ehre unserer Nation”.

Harsche Kritik kommt auch aus dem Lager der Demokraten

Biden habe den islamistischen Demokratiefeinden Afghanistan auf dem Silbertablett geliefert. „Viele mühsam erkämpfte Fortschritte im Zivilleben des Landes, etwa der Schulbesuch für Mädchen oder Ansätze einer westlichen Zivilkultur, sind nun akut bedroht”, sagte der Büroleiter einer demokratischen Senatorin. Die Perspektive sei düster. Zum 20. Jahrestag der Terror-Anschläge vom 11. September, „wird über der US-Botschaft in Kabul wohl die Fahne derer gehisst, die 2001 Osama bin Laden erst möglich gemacht haben.”

Der Blitzkrieg der Taliban markiert, darin sind sich die meisten US-Leitartikler und Analysten einig, das „erste große Fiasko” der Präsidentschaft Bidens. Der Umstand, dass es Vorgänger Donald Trump war, der mit den Taliban 2020 einen naiv-luftigen Deal einfädelte, rettet den 78-Jährigen dabei nicht. Biden hat seit Januar Dutzende Trump-Entscheidungen mit einem Federstrich annulliert. Er hätte es auch in Afghanistan tun können. Zumal ihm seine Top-Militärs dazu rieten.

Biden nahm den Durchmarsch der Taliban bewusst in Kauf

Generalstabschef Mark Milley und Verteidigungsminister Lloyd Austin empfahlen im Frühjahr, ein Kontingent von 2500 bis 3000 Soldaten als Ordnungsfaktor in Afghanistan zu belassen. Schon damals gab es die Warnung der Geheimdienste, dass die Taliban binnen maximal zwölf Monaten die Macht übernehmen könnten, wenn die USA das Land räumten.

Biden nahm das bewusst in Kauf. Sein Credo: Ob Amerika „noch ein Jahr oder fünf Jahre länger bleibt”, an der unstabilen Lage in Afghanistan und an der Kampfunwilligkeit der mit über 80 Milliarden US-Dollar ausgebildeten afghanischen Armee werde sich nichts ändern. Darum: nichts wie raus.

EU-Diplomaten sehen Amerikas Glaubwürdigkeit beschädigt

EU-Diplomaten in Washington prophezeien, dass Bidens Botschaftsevakuierung und das „Im-Stich-lassen” der afghanischen Regierung noch lange nachhallen wird. Amerikas Glaubwürdigkeit als Verteidiger der Freiheit habe in wenigen Tagen schweren Schaden genommen. Alliierte zu finden für ähnliche Missionen, werde in Zukunft nahezu unmöglich. Zu viel Vertrauen in die „Verlässlichkeit und Vernunft” der USA sei kaputtgegangen.

Bidens Ziel, eine „Allianz der Demokratie” gegen China und Russland aufzubauen, werde nun einen noch schwereren Stand haben. Ein Grund: Die erwartete Flüchtlingswelle aus Afghanistan werde in den Anrainer-Staaten und bis nach Europa „schwere Verwerfungen auslösen”.

Auch innenpolitisch droht Gefahr. 60 Prozent der Amerikaner räumten in Umfragen ein, dem Afghanistan-Konflikt keine Beachtung mehr geschenkt zu haben. Das ändert sich jetzt schlagartig. Bidens Präsidentschaft – sie ist seit diesem Wochenende verschattet.