Berlin/Ahrweiler. Fachleute warnen: Deutschland ist nicht gerüstet, um Menschen in Not schnell mit Medikamenten zu versorgen. Auch beim Funk hakt es.
Ute Teichert ist seit mehr als einem Jahr im Ausnahmezustand. Pandemie. Eine von Deutschlands obersten Ärzte-Lobbyistinnen ist gefragte Expertin im Kampf mit dem Corona-Virus, wird zitiert in Zeitungen oder der Tagesschau. Teichert ist Chefin des Bundesverbandes der Amtsärzte, aller Medizinerinnen und Mediziner, die im öffentlichen Gesundheitsdienst arbeiten.
Seit zwei Wochen hat Teichert ein neues Einsatzgebiet neben der Pandemie: die Flutkatastrophe. Ausgerechnet in dem Ort, in dem sie selbst viele Jahre das Gesundheitsamt leitete, hat das Hochwasser mit aller Wucht zugeschlagen: im Kreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz. Auch das Amtsgebäude selbst wurde stark beschädigt. Dorthin kehrte Teichert dieser Tage zurück, erzählt sie im Gespräch mit unserer Redaktion.
Nicht als Verbandschefin, sondern als Medizinerin und freiwillige Helferin im Flutgebiet. Der Eindruck, den sie aus der Katastrophenregion mitgebracht hat, wirft kein gutes Licht auf die Gesundheitsversorgung der Menschen im Ernstfall.
In den Flutgebieten herrscht Seuchengefahr, Wasser ist verdreckt
„Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass wir in Deutschland durch Naturkatastrophen in eine Lage geraten, bei der Versorgung mit Strom, Wasser, Abwasser und auch Teile der medizinischen Versorgung komplett wegfallen.“ Derzeit sei „die Gesundheit der Menschen in den Flutregionen massiv bedroht“, da die Infrastruktur nicht funktioniere.
„In den betroffenen Regionen herrscht Seuchengefahr. Der von den Überflutungen zurückgebliebene Schlamm ist eine Mischung aus Abwasser und Chemikalien, und die Müllberge stapeln sich“, sagt Teichert. Mit ihrer Einschätzung ist Teichert nicht allein.
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In einem Papier des Bundesinnenministeriums vom März heißt es angesichts der Corona-Pandemie in Deutschland, es bestehe im „gesundheitlichen Bevölkerungsschutz“ zum Teil „erheblicher Handlungsbedarf“. So ein Ernstfall ist nun eingetreten.
Die Flutwelle im Ahrtal hat das Gesundheitssystem massiv getroffen. Arztpraxen sind nicht zu erreichen, Apotheken in kleinen Orten mussten schließen, und auch das Krankenhaus in Bad Neuenahr-Ahrweiler machte dicht. Es wurde zwar nicht vom Wasser getroffen, aber die Versorgung mit Strom und Wasser ist weggebrochen.
Bundesbehörden sehen Nachholbedarf bei Trinkwasserversorgung und Materialreserve
In dem Strategie-Papier der Bundesregierung zum Schutz der Bevölkerung spielt auch die mangelnde Versorgung mit Trinkwasser im Krisenfall eine Rolle: „Die für eine Trinkwassernotversorgung erforderliche Vorsorge- und Standortplanung ist jedoch nicht (mehr) aktuell.“ Sie entstamme noch aus den Zeiten des Kalten Krieges.
So plant der Bund etwa, das „Notbrunnensystem“ insbesondere in den neuen Ländern zu sanieren und auszubauen. Zwar existiert bereits eine „Bundesreserve“ etwa für Erdöl, auch Nahrungsmittel und Notunterkünfte. Doch hat die Bundesregierung erst durch die Corona-Pandemie erkannt, dass sie schnellstens ein großer Vorrat an Medikamenten und Schutzausrüstung im Gesundheitssektor benötigt.
Bisher gibt es das nicht. Dabei reichen Materialien und gelagerte Medikamente allein nicht aus. Im Katastrophenfall ist eine Reserve an Personal entscheidend. Im Flutgebiet wird das deutlich: Pflegerinnen und Pfleger fehlen in der aktuellen Notlage. Viele Einrichtungen mussten aufgrund der Hochwasserlage schließen, Pflegebedürftige verlegt werden. Auch das Impfzentrum im Landkreis musste schließen, schnell hatten die Verantwortlichen immerhin einen mobilen Impfbus im Einsatz.
Landesregierung sucht nach freiwilligen Pflegekräften für das Hochwassergebiet
Das Sozialministerium in Rheinland-Pfalz hat nun Freiwillige dazu aufgerufen, sich bei der Landespflegekammer zu melden. „Dies gilt für Betreuungskräfte, die derzeit nicht im Beruf tätig sind und für eine begrenzte Zeit wieder in der Pflege arbeiten möchten“, schreibt die Behörde. Also zum Beispiel Pflegerinnen und Pfleger im Ruhestand.
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Pflege ist Aufgabe der Länder und Kommunen, genauso wie die Versorgung mit Krankenhäusern und Ärzten. Der Bund will die Länder hier jedoch mehr unterstützen. Schon vor der Hochwasserkatastrophe schreibt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), dass das Amt mehr Menschen zu „Pflegehilfskräften“ ausbilden will und mehr Ehrenamtliche für die medizinische Versorgung in Notlagen gewinnen will.
Der Bund hat die Gefahr von Großlagen erkannt, für den kleinen Landkreis mit engem Budget aber ist der Aufbau von Reserven und Notfallplänen deutlich schwieriger leistbar. Und dem Bund sind per Gesetz die Hände gebunden: Er greift vor allem dann ein, wenn ein militärischer Angriff von außen droht.
„Viele Menschen sind durch die Fluten obdachlos geworden“
Klar ist: In den ersten Stunden und Tagen einer Katastrophenlage steht die Rettung von Menschen, die Versorgung von Verletzten im Vordergrund. Die Tausenden Einsatzkräfte und die vielen freiwilligen Helfer haben viel geleistet und sind noch immer im Hochwassergebiet: schleppen Schutt beiseite, räumen Häuser leer und bauen Straßen und Brücken wieder auf.
Es sind die Baustellen, die nach dem ersten Schock der Katastrophe sichtbar werden – nachdem Retter Menschen aus überfluteten Kellern holten, Verletzte versorgt wurden und auch Leichen geborgen wurden. Amtsärzte-Chefin Teichert sagt: „Viele Menschen sind durch die Fluten obdachlos geworden und stehen ohne die benötigten Medikamente da.“
Es sei davon auszugehen, dass sie „keinerlei medizinische Versorgung haben“. Besonders bei Älteren, die an Diabetes erkrankt sind oder Probleme mit dem Herz hätten, sei dies ein „großes Problem“. Teichert fordert: „Es muss in Zukunft gewährleistet sein, dass nach einer Katastrophe zumindest eine Basis-Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht.“
Sie habe vor Ort erlebt, wie in Ahrweiler zwar ein „provisorisches Zelt für die medizinische Versorgung“ errichtet wurde. „Menschen aus anderen Dörfern kommen dort aber nicht hin.“ Bundesbehörden, Landesregierung und die Kreisverwaltungen vor Ort haben reagiert.
Tausende Helfer stellen die Grundversorgung nach und nach wieder her
Die Nothilfe im Hochwassergebiet ist ein Kraftakt, bei dem Tausende Rettungskräfte und noch einmal Tausende freiwillige Helfer im Einsatz sind. Die Versorgung ist laut Landesregierung „immer sichergestellt“ gewesen. Das Technische Hilfswerk spült mit Hochdruckgeräten die Wasserleitungen des örtlichen Krankenhauses frei, „mobile Arztpraxen“ etwa vom Deutschen Roten Kreuz würden die Menschen versorgen.
Die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz hat laut Landesregierung eine Hotline geschaltet, die für Menschen im Hochwassergebiet „rund um die Uhr erreichbar ist“. Ärzten, die nun ohne Praxis dastehen, würde bei der Suche nach neuen Räumen geholfen werden. Und Krankenhäuser in der Region hätten Patientinnen und Patienten aus Ahrweiler aufgenommen.
„Auch der Sanitätsdienst ist an jedem Schadensort grundsätzlich sichergestellt“, schreibt das Bundesamt BBK auf Nachfrage. Aggregate würden von der Stromversorgung abgeschnittene Haushalte im Ahrtal versorgen. Doch trotz aller Notfallmaßnahmen: Es sind Mängel im Krisenmanagement, die nun sichtbar werden, nachdem der gröbste Schlamm weggeschaufelt und Tonnen an Schrott abtransportiert sind.
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Die Pressemitteilungen des Landkreises vom Tag nach der Flutwelle lässt erahnen, wie dramatisch die Lage gerade in den ersten Stunden der Katastrophe war. In der „Chaos-Phase“, wie ein Helfer sagt. „Der Notruf ist derzeit überlastet“, heißt es etwa. Das Internet fällt aus, und die Telefonleitungen brechen zusammen.
In den Stunden der Flut bricht das Funknetz zusammen
Fatal ist: Auch der für die Kommunikation zwischen den Einsatzkräften so wichtige Digitalfunk bricht im Ahrtal und anderen Orten der Flut zeitweise zusammen. Es ist das von Behörden des Bundes und der Länder gemeinsam betriebene Funknetz, auf das Polizeiwagen, Feuerwehrzüge und Kräfte etwa des Technischen Hilfswerks (THW) in Katastrophengebieten zugreifen können.
Wie funktioniert das System? Ein Hauptkanal steuert per Digitalfunk die Einsatzleitung, in Unterkanälen verständigen sich die Einsatzkräfte vor Ort, besprechen Lagemeldungen, fordern Verstärkung an, senden Notrufe an Dienststellen. Der Vorteil: Fast alle Dienstfahrzeuge im Bundesgebiet, so schätzen es Fachleute ein, sind per Digitalfunk erreichbar.
Der Aufbau kostete Bund und Länder einige Milliarden. Knapp eine Million Einsatzkräfte sind angeschlossen. Sofern die Funkmasten und Datenleitungen nicht zerstört sind. Und Strom läuft. Und hier beginnt im Ahrtal das Problem. Die Flut hat Masten für den Funk zerstört oder sie vom Stromnetz gekappt.
Vor allem die vor Ort betriebenen Funkstationen sind zerstört
Nur ein Teil der Stationen verfügt über Notstromaggregate oder Batterien. Den Ausfall hat nach Informationen unserer Redaktion vor allem die „Basisstationen“ betroffen, für die der Landkreis verantwortlich ist. Rund 60 Stationen im gesamten Hochwassergebiet. Einzelne Behörden vor Ort nutzen für den Behördenfunk zudem private Dienstleister wie die Telekom.
Denn: Infrastruktur zu mieten ist oftmals günstiger, als selbst leistungsstarke Netze aufzubauen – gerade als kleines Bundesland oder Landkreis. Doch die Funkmasten privater Anbieter waren schnell zerstört, weggespült wie die Pegelmessstationen. Zudem waren die Netze schnell ausgelastet, da offenbar einzelne Landkreise die Basisstationen im Digitalfunk auf eine geringe Auslastung ausgerichtet hatten.
Die Anzahl der Kanäle war daher begrenzt, etwa auf acht Funkwege zeitgleich. Bei lokalen Notfällen und Einsätzen mit mehreren Löschzügen zum Beispiel bei einem Großbrand mag das funktionieren – bei einem bundesweiten Ausnahmezustand unter Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften nicht mehr.
Einsatzkräfte nutzen Kugelschreiber und „Touristen-Karten“
So liefen laut einer Mitteilung des Landkreises Ahrweiler allein am Morgen nach der Flut dort mehr als 1000 Einsätze zeitgleich. Die Folge: Polizisten und Feuerwehrleute wollen Funksprüche absetzen – hängen aber minutenlang in einer digitalen Warteschleife, weil das Netz überlastet ist.
Erst nach und nach in den Tagen nach der Flutwelle rückten Polizeifahrzeuge mit mobilen Funkstationen an, vernetzten die Einsatzkräfte wieder mit dem wichtigen Kommunikationsmittel. Gerade an den Orten, die noch gut über die Hauptstraßen zu erreichen waren, stand das Netz schnell wieder.
Und doch sind die aufgezeigten Mängel im Katastrophenschutz, die dazu führen, dass freiwillige Helfer und Einsatzkräfte im Ernstfall oftmals improvisieren. Ein Leiter einer Rettungshundestaffel beschreibt, dass er zur Kommunikation lieber den umstrittenen Messengerdienst Whatsapp nutze, ein anderer Helfer notiert sich Durchwahlen der Leitstellen mit Kugelschreiber in einem Notizheft.
Und der Hundestaffel-Leiter sagt, es habe gedauert, bis er vom Einsatzstab die „so wichtigen topografischen Karten“ des Flutgebiets für die Einsätze mit den Hunden bekommen habe. Bis dahin sei er eher „mit einer Art Touristen-Karte“ in Schutt und Trümmern unterwegs gewesen.