Berlin/Hamburg. Ermittlern gelingt ein Schlag gegen Drogenkartelle – mit geknackten Handys von Kriminellen. Doch der Erfolg birgt auch seine Risiken.
Der Drogendealer wird nervös. „Alles gut wexxer“, fragt der Mann, der sich in dem Chat nur „showking“ nennt. Die Antwort seines Komplizen ist knapp. „Ja“, schreibt er. Und schickt dem „showking“ ein Foto, darauf ist ein angebrochener Block Kokain.
Der Dealer fragt nach. Gute Ware? „Gut“, schreibt der Kumpane. Und schickt ein weiters Foto vom Kokain. „showking“ ist offenbar beruhigt. „Richt gut“, textet er, und meint wohl: „richtig gut“. Die Antwort poppt nur Sekunden später auf seinem Handy auf: „Jaaaaaaaa“. Der Deal läuft nach Plan.
Geknackte Handys: Unverblümt chatten die Kriminellen über Kokainhandel
Es sind Auszüge aus Chats einer Gruppe von mutmaßlichen Kriminellen. Unverblümt wie selten sprechen sie über Kokainhandel. Sie sollen mehrere Tonnen aus Südamerika nach Deutschland geschmuggelt haben.
Stimmt der Verdacht der Staatsanwälte, hatten sie Geschäftspartner vor Ort in Kolumbien, sie schleusten Mitglieder in die Logistikfirmen im Hamburger Hafen ein, konnten so den Kontrollen des Zolls entwischen. Die Gruppe verfügte über einen Vertrieb ihrer Ware, hatten mehrere Abnehmer. Organisierte Kriminalität als Wirtschaftsunternehmen.
Das Besondere an diesem Fall: Die Kriminalpolizisten können alles nachlesen, ihre Hierarchien und die verteilten Aufgaben. Sie konnten nachvollziehen, wann wie viel Kokain im Hafen anlandete und wie die Hintermänner an den „Stoff“ in dem Container gelangten.
Alle Chats der mutmaßlichen Drogenbande hatten französische Ermittler in einer riesigen Aktion von Servern abgesaugt. Dort gelagert: Die Nachrichten der Nutzer von sogenannten Encrochat-Handys, über Mittelsmänner für rund 1500 Euro erhältlich, verschlüsselte Mobiltelefone, ohne Kameras und dafür mit abhörsicheren Messengerdiensten. Dieses „WhatsApp der Gangster“ galt unter Kriminellen als sicher. Bis jetzt.
FBI schleust Handy in Drogenszene ein – weltweite Razzien und Festnahmen
Der Fall „showking“ ist einer von Hunderten Ermittlungen, die derzeit in Deutschland anlaufen. Prozesse spielen in Hamburg, das aufgrund des Hafens ein Umschlagplatz für Drogen ist, aber auch in Magdeburg, Bremen, Berlin, Kleve. Noch mehr sind es in ganz Europa. Millionen von Nachrichten gingen ans Bundeskriminalamt.
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In diesen Tagen sind Tausende Ermittler erneut unterwegs, durchsuchen Wohnungen, nehmen mutmaßliche Drogendealer fest, gehen gegen mehr als 300 kriminelle Syndikate vor. Es ist eine der größten weltweiten Polizeiaktionen. Undercover-Beamte der US-Polizeibehörde FBI und der australischen Polizei schleusten verschlüsselte Handys unter dem Namen „ANoM“, wie anonym, in die Kriminellen-Szene ein. Die Operation „Trojanisches Schild“.
Was die Drogenbosse nicht wissen: Die Polizei kann alle Chats mitlesen. Es werden Dutzende Millionen Nachrichten sein, mit Fotos von Kokain, verpackt in Obstkisten und Konservendosen.
FBI will 100 Mordkomplotte mit abgehörten Handys verhindert haben
18 Monate verfolgen die Ermittler die Nachrichten der kriminellen Banden. Nun haben sie zugeschlagen: In 16 Ländern weltweit durchsuchten Beamte unter der Führung des FBI 700 Objekte, nahmen 800 mutmaßliche Kriminelle fest, beschlagnahmten acht Tonnen Kokain und andere Drogen. Sogar rund 100 Mordkomplotte sollen laut FBI verhindert worden sein.
Es ist ein Trend, der sich zeigt: Encrochat, ANoM – und vor einigen Monaten wurde bekannt, dass Polizisten aus Belgien, Frankreich und den Niederlanden einen weiteren Server mit verschlüsselten Handydaten von Kriminellen knacken konnten: der Name „SkyECC“.
Die „Akte Encrochat“ gilt für Deutschland bisher als die weitreichendsten Ermittlungen gegen Drogenkartelle. Allein in Hamburg, mit dem für Drogendealer so wichtigen Hafen, leitete die Polizei 300 Verfahren ein. Ein führender Kopf der europäischen Szene wurde verhaftet. Ihm allein werfen die Beamten Schmuggel von 1,3 Tonnen Kokain vor.
Goldgräberstimmung in den deutschen Kriminalämtern
Unsere Redaktion hat Gerichtsakten ausgewertet, sprach mit Staatsanwältinnen, Abteilungsleitern in den Kriminalämtern und Rechtsanwälten. Viele beschreiben den Encrochat-Hack der französischen Polizei als „Zeitenwende“ im Kampf gegen organisierte Kriminelle, sprechen von einer „einzigartigen Beweislage“, von Einblicken „jenseits bisheriger Vorstellungskraft“ in eine sonst abgeschottete Szene. Goldgräber-Stimmung in den deutschen Kriminalämtern. Es geht um Mord, Waffen und Drogen.
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Ein Quartett aus zwei Afghanen und zwei Männern aus Montenegro sollen Handwerker als Drogenkuriere angeheuert haben, um Amphetamin während des Corona-Lockdowns trotz Grenzschließungen nach Dänemark zu schmuggeln. Brisant: Zwei der Männer hatten als Adresse eine Hamburger Haftanstalt und saßen im offenen Vollzug.
In Gelsenkirchen ließen Ermittler einen ehemaligen Profi-Fußballer verhaften, der unter anderem für den HSV spielte. Der Vorwurf: Er soll knapp 230 Kilo Marihuana, über 30 Kilo Haschisch und 50 Kilo Kokain beschafft und mit einem Komplizen verkauft haben.
Muss sich die Kriminalpolizei angesichts der Masse der Daten neu aufstellen?
Doch zwei große Fragezeichen bleiben: Muss sich die Kriminalpolizei angesichts der neuen, tiefen Einblicke in die Organisierte Kriminalität im Kampf gegen Schwerverbrecher neu aufstellen? Und dürfen Staatsanwälte die gehackten Chats als Beweise vor Gericht überhaupt nutzen?
Schon vor einigen Jahren fällt der französischen Polizei ein Rechenzentrum an der belgischen Grenze auf. Firmen mieten hier Server an, um Daten zu speichern. Die Ermittler vermuten, dass auch die Daten der Nutzer der Encrochat-Handys hier auf Rechnern liegen. Vor einem Jahr dann der Durchbruch aus Sicht der Ermittler: Sie erwirken einen Gerichtsbeschluss – und greifen die Server mit einer Hacker-Software an.
Am Ende leitet die Spezialeinheit der Polizei Daten von mehr als 30.000 Nutzern in 121 Ländern aus. Die Masse, rund 60 Prozent, kommuniziere ausschließlich zu kriminellen Zwecken, heißt es. Handys, deren Standortdaten in Deutschland geortet wurden, gaben die Franzosen weiter an das BKA. Dort und in den Bundesländern werten Behörden seit Monaten die Chat-Nachrichten aus – und klagen an.
„Man muss nicht nach Mexiko schauen, um brutale Kriminalität zu sehen“
„Man muss nicht immer noch Mexiko, Südamerika oder andere ferne Länder schauen, um Kriminalität in ihrer brutalsten Form zu sehen“, sagt ein Kriminalbeamter. Immer wieder tauchen Fotos auch mit Waffen in den Chats auf, in manchen Szene sei gebe es wenige, „die nicht wenigstens eine Halbautomatische haben“, sagt ein Kripo-Beamter. In einzelnen Fällen geht es um Mordpläne im Milieu, in anderen um den Schmuggel von Kriegswaffen.
Wer sich für 1500 Euro ein verschlüsseltes Handy besorgt, plant große Coups. „Das sind keine Straßendealer“, sagt ein Ermittler. Die Auswertung der Chats zeige, wie „professionelle Lieferketten“ für den Drogenhandel aufgebaut würden. Auch die Korruption etwa von Hafen-Mitarbeitern spiele in Encrochat-Verfahren eine gewichtige Rolle.
Laut Alexandra Klein, Chefin der Abteilung zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität im Landeskriminalamt Hamburg, waren selbst altgediente Ermittler überrascht von dem Umfang des hochkarätigen kriminellen Treibens, dass nun aus dem Daten-Hack ans Licht kommt. „Man wird die bisherige Bekämpfung der Organisierten Kriminalität hinterfragen müssen“, sagt sie unserer Redaktion.
Während der Staat die Auswertung der Daten feiert, sprechen Rechtsanwälte der mutmaßlichen Kriminellen von einem Missbrauch. „Für mich ist der Eingriff der französischen Polizei auf die Encrochat-Server der größte Datenschutz-Skandal, den es bisher in Europa gegeben hat“, sagt Strafverteidiger André Miegel, der in Deutschland mehrere Encrochat-Beschuldigte vertritt.
Erste Gerichte halten das Vorgehen der Polizei in Deutschland für rechtens
Wie Miegel warnen auch andere Rechtsanwälte, dass die französischen Behörden mit dem Ausleiten der Masse an Daten ihre Befugnisse überschritten haben. Und dass deutsche Polizisten von diesem „Hackerangriff“ nicht profitieren dürften. „Ein Verdacht auf Straftaten ohne konkrete Beschuldigte reicht nicht aus, um einen gesamten Server abzusaugen und die Daten sämtlicher Handys auszuwerten“, sagt Miegel.
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So sehen es die Verteidiger der mutmaßlichen Straftäter. Weil etliche Prozesse drohen, haben sich Kanzleien bereits spezialisiert. „Encrochat gehackt! Was nun?“, wirbt ein Anwaltsbüro. Andere bieten Seminare an, wie Juristen die Beweise aus den mitgeschnittenen Chats vor Gericht anfechten können. Denn den Anwälten ist klar: Werden die Chats zugelassen, ist die Beweislast erdrückend.
Und bisher sieht es nicht gut aus für die Beschuldigten. Gerichte in Hamburg, Bremen und Rostock wiesen Beschwerden der mutmaßlichen Täter zurück. Zweimal versuchten Anwälte einen Entschluss vor dem Bundesverfassungsgericht zu erwirken gegen die Annahme der Chats vor Gericht. Beide Einwände lehnte das oberste deutsche Verfassungsgericht als unzulässig oder unbegründet ab.
Im Kampf gegen Kinderpornografie arbeitet das BKA längst mit US-Behörden zusammen
Julia Bussweiler ist Staatsanwältin bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität in Frankfurt. Hier beginnen die deutschen Encrochat-Ermittlungen mit einem Verfahren gegen „Unbekannt“. Gesammelt sind dort: mögliche Tatvorwürfe, die sich aus den Auswertungen der Chats ergeben könnten – Drogenhandel, Mord, Geldwäsche, Waffenschmuggel.
Von der Zentralstelle in Frankfurt gehen die Akten zu den Staatsanwaltschaften in den Bundesländern – je nachdem, wo die gesicherten Handys hauptsächlich geortet wurden. Bussweiler verweist darauf, dass deutsche Behörden in vielen Verfahren mit europäischen Polizeien und Staatsanwaltschaften zusammenarbeiten. Im Bereich der Kinderpornografie erhält das BKA regelmäßig Daten aus Online-Foren – Chat-Nachrichten und Profile mutmaßlicher Kinderschänder.
Staatsanwältin Bussweiler hebt hervor: „Es ist gängige Praxis europäischer Rechtshilfe, dass wir in Deutschland von Beweismitteln profitieren, die in einem anderen EU-Staat auf Basis der dortigen Gesetze gewonnen werden konnten.“
„Ohne Verstärkung bleiben die Chats jahrelang unbearbeitet liegen“
Brisant sei es andersherum: Deutscher Ermittler wüssten, dass die französische Polizei Informationen zu möglichen Schwerverbrechen in Deutschland hat – und dürfe nichts tun. Die Staatsanwältin sieht die Arbeit der Zentralstelle und des BKA durch die bisherigen Gerichtsbeschlüsse zu den Beweismitteln bestätigt.
Selbst überprüfen können die deutschen Behörden nicht, ob die französische Polizei rechtmäßig handelte. Sie müssen sich darauf verlassen. Aus Sicht der Staatsanwälte greift hier der einheitliche europäische Rechtsraum. Aus Sicht der Anwälte bleibt der Fall brisant, sie wollen weiter gegen die Verwertung der Daten vor Gericht ziehen. Zur Not bis vor den Europäischen Gerichtshof, sagt Verteidiger Miegel.
Vielleicht rettet manchen beschuldigten Encrochat-Nutzer am Ende etwas ganz anderes vor Jahren hinter Gittern: die Überlastung von Polizei und Justiz unter der riesigen Datenmenge. „Wollen wir die Encrochat-Ermittlungen ernsthaft strafverfolgen, dann bindet das große Ressourcen bei der Kriminalpolizei in Deutschland“, sagt Oliver Huth vom Bund Deutscher Kriminalbeamter.
„Ohne Verstärkung in den Kriminalämtern werden Chats jahrelang unbearbeitet liegenbleiben müssen“, sagt Huth. Die mutmaßlichen Täter könnten dann längst abgetaucht sein – und das Drogengeld gewaschen.