Aschkelon/Tel Aviv/Jerusalem. Der Konflikt zwischen Israel und der radikalislamische Hamas eskaliert, mehrere Menschen starben. Ein Ende ist derzeit nicht in Sicht.
Es ist ein hübsches Häuschen mit vielen Blumen im Vorgarten. Es sieht einladend aus – wäre da nicht das riesige Loch in Dach und Fassade. Hier schlug am Dienstagnachmittag die Rakete ein, die Sahumia Santosh tötete. Die 32 Jahre alte Inderin betreute in der Malchei-Israel-Straße 22 eine Holocaust-Überlebende. Im Krankenhaus kämpfen die Ärzte um das Leben der schwer verletzten alten Frau.
Sahumia, Mutter eines Kindes, arbeitete als Pflegerin in Israel, um ihre Familie daheim zu unterstützen. Die Menschen auf der Straße stehen fassungslos vor dem Haus – im Hintergrund donnern die Raketen.
Seit zwei Tagen steht die Küstenstadt Aschkelon unter Dauerbeschuss. Die Menschen dort gehören immer zu den Ersten, die dem Raketenhagel von Hamas und Islamischem Dschihad ausgesetzt sind – und er trifft sie auch am schlimmsten: Aschkelon liegt wenige Kilometer nördlich des Gazastreifens.
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Nahostkonflikt: Hamas feuerte über 1000 Raketen auf Israel ab
Von den mehr als 1000 Raketen, die radikalislamische Terrorgruppen in den vergangenen beiden Tagen abfeuerten, gingen fast 300 in der Stadt am Mittelmeer nieder. Bis Mittwochabend starben in Israel neben Sahumia fünf weitere Menschen, Hunderte wurden verletzt. Wegen der Angriffe unterbrach zeitweise der internationale Ben-Gurion-Flughafen seinen Betrieb.
„Hamas und Islamischer Dschihad haben gezahlt und werden weiter einen sehr schmerzhaften Preis für ihre Aggression zahlen“, sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu. Die Militäraktion werde aber Zeit brauchen. Der Hamas-Führer Ismail Haniya rief alle Palästinenser „zu einem Kreuzzug für Jerusalem“ auf.
Die Terrorgruppen feuern oft im Minutentakt. Mehr als 85 Prozent der Raketen fängt nach Armeeangaben das Abwehrsystem „Eiserne Kuppel“ ab. Hunderte stürzen noch im Gazastreifen ab. Die israelische Armee verlegte am Mittwoch Soldaten und Panzer ins Grenzgebiet. Gut 5000 Reservisten wurden mobilisiert.
Das sind die heiligen Stätten Jerusalems
21-jähriger Soldat starb durch Panzerabwehrrakete aus Gaza
In Aschkelon haben einige ein Notlager im Luftschutzbunker ihres Hauses aufgeschlagen, um nicht jedes Mal losrennen zu müssen, wenn die Sirene heult. Andere haben ihr Schlafzimmer gleich im Bunkerraum eingerichtet. Aber drei Viertel der Bevölkerung haben keinen Schutzraum im Haus. Überleben ist hier auch eine Geldfrage.
Ins Barzilai-Krankenhaus werden am Vormittag zwei junge Soldaten gebracht. Eine Panzerabwehrrakete aus Gaza hatte ihren Jeep getroffen, ein 21-jähriger Soldat überlebt das nicht. Um die anderen kümmern sich Notaufnahmeleiter John Rieck und sein Team. 100 neue Patienten waren es seit Montag. Der Brite ist seit 30 Jahren Notfallmediziner, seit drei Jahren in Aschkelon.
„Erst kam die Corona-Pandemie. Da gab es nur Arbeiten, Schlafen, Aufstehen. Und es hieß: Okay, zurück in den Krieg.“ Jetzt sei der wirkliche Krieg zurück. Und er wird wohl noch eine Weile dauern. Bürgermeister Tomer Glam hält es für besser, Geduld zu haben: „Mir ist lieber, es dauert ein bisschen länger“, sagt er, „damit es dann auch wirklich vorbei ist.“
Ranghohe Mitglieder der Hamas bei Angriffen getötet
Militärs schlossen am Mittwoch eine Bodenoffensive nicht mehr aus. Die israelische Armee teilte mit, bei Vergeltungsangriffen seien „strategisch wichtige Ziele und Terroristen in Gaza getroffen“ worden. Mehr als 20 Mitglieder von Hamas und Islamischem Dschihad wurden getötet, darunter mehrere Kommandeure und der Hamas-Geheimdienstchef. Die Armee zerstörte in der Nacht zum Mittwoch zwei mehrstöckige Gebäude in Gaza, die angeblich von der Hamas genutzt wurden.
Die Bewohner waren vor dem Angriff von Israels Streitkräften gewarnt worden. Auch das Haus eines Hamas-Führers wurde zerstört. Dort soll sich ein Waffenlager befunden haben. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seit Montag 48 Palästinenser getötet, darunter 14 Kinder und drei Frauen. Mehr als 300 Menschen seien verletzt worden.
In der Stadt Lod brannte eine Synagoge
Gleichzeitig dauerten in Israel die Proteste an, die am Anfang der jüngsten Eskalation standen. Sie weiteten sich auf Städte wie Akko und Ramle aus, in denen Juden und Araber zusammenleben. Nach gewaltsamen Ausschreitungen arabischer Bewohner, bei denen ein Mensch ums Leben kam, verhängte die israelische Regierung den Ausnahmezustand über die Stadt Lod. Eine Synagoge sowie viele Autos und Geschäfte wurden in Brand gesetzt.
Der Bürgermeister verglich die Lage mit einem Bürgerkrieg. Israels Präsident Reuven Rivlin sprach von einem „Pogrom durch einen aufgehetzten und blutrünstigen arabischen Mob“. Auch Lod hat der Raketenhagel aus Gaza schwer getroffen. Ein Vater und seine 16-jährige Tochter starben. Lod liegt nicht weit von Tel Aviv entfernt.
Tel Aviv: „Ich schütze die Kinder mit meinem Körper“
Die Küstenmetropole erlebt in der Nacht zum Mittwoch einen der schlimmsten Raketenangriffe ihrer Geschichte. Melody Sucharewicz hat sich für ihre verängstigten Kinder ein Spiel ausgedacht: Wettlauf zurück in die Wohnung. Oder schnell flach auf den Boden legen.
„Gestern Abend bin ich mit den Kindern direkt in den Bunker gegangen, wir haben die ganze Nacht dort verbracht. Wir hörten die Explosionen. Und man weiß nie, ob das ein Einschlag war oder das Donnern der Abwehrraketen“, erzählt Sucharewicz im Telefongespräch mit unserer Redaktion.
Sie ist in München geboren, war israelische Sonderbotschafterin in Deutschland und lebt jetzt als Politikberaterin in Tel Aviv. Ihr Sohn ist vier Jahre alt, die Tochter sieben. Sie ist allein mit den Kindern, ihr Mann wurde gerade als Reservist einberufen. „Wenn das Donnern der Explosionen näher rückt, dann schütze ich meine Kinder noch mit meinem Körper. Auch im Bunker ist man nicht sicher, wenn es einen direkten Treffer in das Haus gibt.“