Mexiko-Stadt. 85.000 Menschen gelten in Mexiko als vermisst, Zehntausende wurden allein im letzten Jahr ermordet. Die Gewalt in Mexiko reißt nicht ab.

Die kleine Julia Isabella hatte großes Glück. So viel Glück, wie ihre Angehörigen bisher nicht gehabt haben. Das 18 Monate alte Mädchen wurde am Donnerstag in einem kleinen Dorf im Bundesstaat Jalisco gefunden, wo es achtlos abgelegt worden war. Seit dem 24. März galt das Baby als vermisst. Von ihren Eltern, ihrer Tante und ihrem neunjährigen Cousin fehlt allerdings weiterhin jede Spur. Sie wollten aus dem Osterurlaub in Mexiko-Stadt in ihrem Fahrzeug nach Hause nach Guadalajara zurückkehren, kamen dort aber nie an.

Der Fundort der kleinen Julia liegt gut 100 Kilometer südwestlich von Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos. Der Bundesstaat Jalisco gilt nicht nur als einer der wirtschaftlich wichtigsten des Landes. Er ist zudem von der Organisierten Kriminalität am härtesten getroffen. Hier wurden vor bald einem halben Jahrhundert die mexikanischen Drogenkartelle gegründet. Hier ringen die Verbrechersyndikate noch immer um Routen und Reviere für Rauschgift und mehr als ein Dutzend anderer illegaler Waren.

Gewalt in Mexiko: Zehntausende Menschen verschleppt oder ermordet

Und alle kämpfen sie gegen den Staat. Guadalajara und Jalisco sind daher Epizentren der Gewalt und des Schmerzes in Mexiko, wo täglich rund 100 Menschen ermordet werden. Den Sicherheitsbehörden zufolge wurden im vorigen Jahr 34.523 Menschen im ganzen Land getötet. Nach neuesten Regierungsangaben gelten inzwischen 85.000 Menschen als vermisst, allein in Ja­lisco sind es knapp Zehntausend.

Die 85.000 Menschen seien innerhalb der vergangenen 15 Jahre verschleppt oder ermordet worden, sagt der Staatssekretär für Menschenrechte, Alberto Encinas. Seit der Amtsübernahme durch den jetzigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador Ende 2018 seien 44.000 Personen neu als vermisst gemeldet worden. Zudem habe man mehr als 1600 Gräber mit den sterblichen Überresten von Verschwundenen entdeckt. Oft haben diese nicht die Behörden, sondern Angehörigen­gruppen gefunden.

2006 hatte der damalige Präsident Felipe Calderón angekündigt, verstärkt gegen Drogenkartelle vorzugehen, wofür er sich auf die Streitkräfte stützte. Vor allem seitdem wurden zunehmend Menschen verschleppt und getötet. Die Täter sind oft Mitglieder des Organisierten Verbrechens, aber in vielen Fällen sind es auch Polizisten und Militärs. Manchmal arbeiten die staatlichen Sicherheitskräfte auch mit den Verbrechern zusammen. So scheint es auch im Fall der Familie der kleinen Julia Isabella gewesen zu sein. Ersten Ermittlungen zufolge wurde die Familie von Polizisten verschleppt.

Mexiko: In Teilen gekaperter Staat

Der Fall beleuchtet, wie schnell und unvermittelt man in Mexiko in Lebensgefahr geraten kann. Korrupte Polizisten bei einer Verkehrskon­trolle, Straßensperren von lokalen Mafia-Banden, Erpressungsversuche oder Racheakte reichen schon, um Menschen zu töten oder verschwinden zu lassen. Mexiko sei ein in „Teilen gekaperter Staat“, sagt Edgardo Buscaglia, Kriminalitätsexperte und Dozent an der New Yorker Columbia-Universität. Lesen Sie dazu: Warum Mexiko zu Sodom und Gomorrha wurde

Das organisierte Verbrechen habe die Leerstellen besetzt, die der Staat ließ. Die Mafia-Clans hätten sich längst in bestimmten Gebieten als Ordnungsmacht etabliert. Es handele sich um multinationale Großunternehmen, die schon lange nicht mehr nur Rauschgift schmuggelten, sondern in Dutzende illegale Aktivitäten verstrickt seien.

Die Opfer sind zwar zum einen Mitglieder der verschiedenen Verbrecherbanden, die bei Kämpfen um Territorien sterben. Zunehmend aber sind es auch Unschuldige wie die Familie des 18-monatigen Babys, die sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort aufhalten. In den vergangenen Jahren hat es sich zu einem lukrativen Geschäft entwickelt, zentralamerikanische Mi­granten zu entführen.

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Verbrechen in Mexiko: Staat macht seine Arbeit nicht

Gerade erst Ende Januar hat ein Massaker für Aufsehen gesorgt, das im Bundesstaat Tamaulipas verübt wurde. Unweit der Grenze zu den USA wurden 19 Leichen gefunden. Sie lagen in einem ausgebrannten Pick-up. Es soll sich um eine Gruppe guatemaltekischer Migranten gehandelt haben, die auf dem Weg in die USA in die Hände des organisierten Verbrechens gerieten.

Manche Kartelle entführen die Flüchtenden, um bei Angehörigen in den USA Lösegeld zu erpressen. Erhalten sie nichts, zwangsrekrutieren sie die Migranten, damit sie Drogen schmuggeln oder – bei Frauen – als Prostituierte arbeiten.

Menschenrechtsgruppen und Angehörigenverbände machen seit Jahren Druck auf die mexikanischen Regierungen, an dieser Situation etwas zu ändern. Und so erledigen oft die Angehörigen die Arbeit, die eigentlich der Staat machen müsste. Sie suchen selbst nach Vermissten und Massengräbern. „Denn Polizei und Staatsanwaltschaft tun ihre Arbeit nicht“, klagt Mónica Chavira vom Kollektiv Por Amor a Ell@s, einer Selbsthilfegruppe von Frauen, die in diesem unerklärten Krieg ihre Männer oder Söhne verloren haben.