Peking. China hat für die Uiguren in Xinjiang ein brutales Lagersystem errichtet. Erstmals seit 30 Jahren hat die EU Sanktionen verhängt.
Die Hölle, die Sayragul Sauytbay beschreibt, ist ein Gefangenenlager in der Provinz Xinjiang, in dem die heute 43-Jährige als Ausbildnerin arbeiten musste. Die Insassen waren meist Uiguren. Zu zwanzigst hockten sie in winzigen, kameraüberwachten Zellen, als Klo diente ihnen ein Plastikeimer, der nur alle 24 Stunden geleert wurde.
Sauytbays Aufgabe war es, den Häftlingen die chinesische Sprache und Kultur beizubringen. Doch freiwillig tat sie das nicht: „Niemals durften sich Mitarbeiter des Lagers unbegleitet bewegen, immer heftete sich mindestens ein bewaffneter Begleiter wie ein Schatten an meine Fersen“, schreibt sie nun in ihrem vor kurzem erschienen Buch „die Kronzeugin“.
China begeht an den Uiguren eines der größten Menschenrechtsverbrechen
Das Zeitdokument wirft ein Schlaglicht auf eine der größten Menschenrechtsverbrechen der Gegenwart. In der Provinz Xinjiang hat der Sicherheitsapparat der Kommunistischen Partei ein Lagersystem aufgebaut, in dem hunderttausende der muslimischen Minderheit der Uiguren festsitzen. Überlebende, die mittlerweile im ausländischen Exil leben, sprechen von Gewalt und Folter, Vergewaltigungen und Gehirnwäsche.
Zuletzt hatte der öffentliche Druck dazu geführt, dass die Europäische Union – erstmals seit über drei Jahrzehnten – Sanktionen gegen vier chinesische Parteikader verhängt hat, die maßgeblich am Lagersystem beteiligt sind. Peking jedoch reagierte mit aller Härte – und verhängte seinerseits Sanktionen gegen zehn Politiker und vier Institutionen.
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Die chinesische Regierung verhindert die Unabhängigkeitsversuche der Uiguren
Doch warum trifft es ausgerechnet die Uiguren? Das Turkvolk ist eines von 56 offiziell anerkannten Minderheiten im Vielvölkerstaat. Sie leben im äußersten Nordwesten des Landes; einer Region, die durch atemberaubender Naturschönheit durchzogen ist: Sandwüsten, Hochgebirge mit Schneegipfeln und unberührte Steppenlandschaften.
Doch hinter der idyllischen Fassade gilt die Provinz als Krisenherd: Immer wieder gab es Unabhängigkeitsbewegungen. Für die Zentralregierung ist die Provinz jedoch von immenser Bedeutung: Die Route des Seidenstraßenprojektes, das Chinas wirtschaftlichen Machtbereich in der Region festigen soll, verläuft durch das ressourcenreiche Xinjiang.
Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 hat die Regierung versucht, die Region durch eine massive Siedlungspolitik zu befrieden. Vor 70 Jahren waren noch drei Viertel aller Bewohner Uiguren, mittlerweile sind es nur mehr 40 Prozent. Die größte ethnische Gruppe sind längst Han-Chinesen, die 92 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Einige Männer der Uiguren radikalisierten sich
Die Pekinger Zentralregierung wird von vielen Uiguren als Besatzungsmacht wahrgenommen, die das Land wirtschaftlich ausbeutet und die Kultur unterdrückt. Nach der Jahrtausendwende radikalisierten sich immer mehr junge, oft arbeitslose Männer. Einige wandten sich dem fundamentalistischen Islam zu, teilweise unterwandert durch den Einfluss der Nachbarstaaten Afghanistan und Pakistan. Etliche Terroranschläge in jener Zeit sind dokumentiert, von vielen weiteren weiß die Öffentlichkeit aufgrund der staatlich kontrollierten Medien nichts.
2013 fuhren Uiguren wahllos in eine Menschenmenge auf Pekings Platz des Himmlischen Friedens, im nächsten Jahr töten fünf Terroristen auf einem Bahnhof in Südchina mit Messern fast 30 Menschen. Es sind Schlagzeilen wie diese, welche die chinesische Öffentlichkeit aufrütteln.
2017 schließlich reagierte die kommunistische Partei mit übertriebener Härte: Es baute ein Lagersystem auf, in dem hunderttausende Uiguren inhaftiert sind - oftmals aus willkürlichen Gründen:
- Wie aus geleakten Regierungsdokumenten hervorgeht, reichen oftmals symbolische „Vergehen“ wie lange Bärte oder Alkoholabstinenz, damit der Sicherheitsapparat Anzeichen von Radikalisierung wettern.
- In den Gefängnissen sitzen Bürger fest, weil sie eine Moschee Spendengelder überwiesen haben oder mit Verwandten im Ausland telefoniert haben.
- Die Bedingungen in den Lagern sind katastrophal: Längst sind etliche Fälle von Zwangsarbeit und -sterilisierungen dokumentiert.
Wer es schafft, zu fliehen, dem drohen grausame Sanktionen
Doch auch für Uiguren, die aus dem Land fliehen konnten, ist der Alptraum nicht vorbei. Aus einem aktuellen Bericht von Amnesty International geht hervor, dass Exil-Uiguren oftmals vom chinesischen Staat gehindert werden, ihre Kinder nachzuholen – etwa, indem sie in Waisenhäusern festgehalten werden. Omer und Meryem Faruh haben sich entschieden, für den Menschenrechtsbericht ihr Schweigen zu brechen: 2016 flohen sie in die Türkei, zwei ihrer Kinder – im Alter von fünf und sechs – mussten sie zurücklassen, da sie noch keine Reisedokumente besaßen. „Wir haben die Stimmen unserer Töchter seit 1.594 Tagen nicht mehr gehört“, sagt Omer Faruh. Denn während des Exils wurden seine Verwandten in Lager gesteckt – und der Kontakt zu den Kindern brach ab.
„Am Beispiel der Familientrennung wird die ganze Unmenschlichkeit des chinesischen Vorgehens gegen muslimische Minderheiten in Xinjiang deutlich, die unter dem Deckmantel der ‘Terrorismusbekämpfung’ gerechtfertigt werden soll“, sagt Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland.
China bestreitet die Existenz der Lager
Zunächst stritt die chinesische Regierung die Lager vollständig ab. Nachdem die Lügen Pekings aufgrund von Satellitenaufnahmen nicht mehr aufrecht zu halten waren, deuteten sie die Anlagen als „Ausbildungszentren“ zur Deradikalisierung um. Immer wieder versuchte der Propagandaapparat, orchestriert durch staatlich kontrollierte Medien und Botschafter im Ausland, unbestreitbare Fakten als Lügen abzutun.
Der jüngste „Spin“ Pekings dürfte jedoch ganz besonders kontraproduktiv sein: Auf die Völkermord-Anschuldigungen reagiert die Staatsführung mittlerweile mit einem Schulterzucken – und verweist auf den Holocaust Nazi-Deutschlands und den kanadischen Genozid seiner Ureinwohner. Die unbeabsichtigte, aber sehr wohl unterschwellige Botschaft lautet: Wenn andere Länder Menschenrechtsverbrechen begangen haben, dann steht uns das auch zu.
Polizeistaat mit Überwachungskameras und Metalldetektoren
Die zynische Einladung von chinesischen Regierungsvertretern, man solle sich als Journalist selbst von den glücklichen Uiguren in Xinjiang überzeugen, laufen ins Leere. Denn wer als Journalist nach Xinjiang reist, erlebt einen absoluten Polizeistaat, wie ihn George Orwell nicht hätte besser ausdenken können. An fast allen Straßenkreuzungen sind Militärcheckpoints installiert, Überwachungskameras kontrollieren jeden Quadratmeter des öffentlichen Raums und selbst vor Einkaufszentren muss die Bevölkerung Metalldetektoren passieren.
Es sind beklemmende Details, die sich ins Gedächtnis brennen: der Melonenverkäufer, der sein Schneidemesser aus „Sicherheitsgründen“ an eine Metallkette befestigt haben muss; oder die Wohnanlagen, die wie Festungen mit Gesichtserkennungskameras bewacht werden. Unabhängige Gespräche sind praktisch unmöglich, denn ausländische Journalisten werden meist auf Schritt und Tritt von Sicherheitsbeamten verfolgt.
Eine Uigure traut sich, seine Geschichte zu erzählen
Einer der wenigen Uiguren, der seine Leidensgeschichte öffentlich macht, ist der 40-jährige Tahir Mutällip Qahiri, der an der Universität Göttingen promoviert. Sein Vater, ein angesehener Linguist und langjähriges Mitglied der kommunistischen Partei, wurde wegen „Anstachelung zu ethnischem Hass“ verurteilt und zu Hausarrest verurteilt. Seine monatliche Pension von über 1.000 Euro, in China sehr viel Geld, hat der chinesische Staat storniert.
„Bisher hat die chinesische Regierung insgesamt 33 tausend Euro meines Vaters geklaut“, schreibt der erboste Qahiri auf Twitter. Doch der Uigure kämpft einen einsamen Kampf: Dass er seine Verwandten jemals wiedersieht, ist unwahrscheinlich. Denn eine Rückkehr nach China scheint viel zu gefährlich, schließlich droht dort möglicherweise Lagerhaft. Das einzige, was ihm bleibt, sind kurze Video-Anrufe mit seinen Eltern. Doch nach zwei Minuten wird die Verbindung meist abgebrochen.
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