Berlin. 100-Jähriger und 95-Jährige sind wegen NS-Verbrechen angeklagt. Internationales Auschwitz Komitee kritisiert Versäumnisse der Justiz.

Das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig war ein Umschlagplatz menschlicher Grausamkeit. Die Nationalsozialisten verschleppten Juden, Intellektuelle aus Danzig und Kriegsgefangene. Wer arbeitsfähig war, wurde in andere Lager mit Rüstungsproduktion gebracht, Frauen mussten in Stutthof schwere Erdarbeiten leisten. Wer schwach oder krank war, dem drohte das Hauptlager, in Sterbezonen wurden die Menschen dort sich selbst überlassen.

Der Lagerkommandant Paul Werner Hoppe erhielt im Sommer 1944 den Befehl zur Tötung der Juden. 65.000 Menschen starben im KZ Stutthof. Welche Verantwortung Irmgard F. dabei trägt, hat die Staatsanwaltschaft Itzehoe vier Jahre lang untersucht. Die heute 95-Jährige arbeitete von Juni 1943 bis April 1945 als Schreibkraft für den Kommandanten Hoppe. Der wurde später wegen seiner Verbrechen in Stutthof vor einem Bochumer Gericht zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.

Lesen sie auch:Auschwitz-Überlebende: „Sie trieben uns mit Peitschen an“

Angeklagte will von Morden erst nach Kriegsende erfahren haben

Für die Anklage gegen seine damalige Sekretärin hat die Staatsanwaltschaft Zeugen in den USA und Israel vernommen. Die Staatsanwaltschaft hat jetzt Anklage vor der Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe erhoben. Der Vorwurf: „Die damals Heranwachsende soll in über 10.000 Fällen Beihilfe zum Mord geleistet haben“, sagt Peter Müller-Rakow, Sprecher der Staatsanwaltschaft Itzehoe.

Imgard F. soll als Sekretärin bei der systematischen Tötung von jüdischen Gefangenen, polnischen Partisanen und sowjetrussischen Kriegsgefangenen Hilfe geleistet haben.

Die 95-Jährige soll heute in einem Altenheim im Kreis Pinneberg leben und gegenüber einem NDR-Reporter bestätigt haben, zwar für Hoppe gearbeitet zu haben, aber von den Morden im Lager erst nach Kriegsende erfahren zu haben – und das obwohl ihr Arbeitsplatz direkt vor dem Haupteingang zum KZ gelegen habe.

Von den NS-Verbrechen werden nur noch Morde und Beihilfe strafrechtlich verfolgt

Nach einem Bericht der ARD-„Tagesschau“ aus dem vergangenen Jahr war die 95-Jährige bereits mehrfach als Zeugin befragt worden. 1954 habe sie ausgesagt, Kommandant Hoppe habe ihr täglich Schreiben diktiert und Funksprüche verfügt. Über die Vergasung von Menschen sei ihr jedoch kein Schreiben bekannt gewesen.

Heinrich Himmler, Chef der SS und einer der Hauptverantwortlichen des millionenfachen Mordes an Juden und anderen Menschen, bei einem Besuch in Stutthof am 23. November 1941
Heinrich Himmler, Chef der SS und einer der Hauptverantwortlichen des millionenfachen Mordes an Juden und anderen Menschen, bei einem Besuch in Stutthof am 23. November 1941 © Muzeum Stutthof in Sztutowo

Das Verfahren gegen die 95-Jährige befindet sich in einem sogenannten Zwischenverfahren. Das Gericht Itzehoe muss entscheiden, ob nach vorläufiger Bewertung des Akteninhaltes eine Verurteilung wahrscheinlich ist und keine Strafverfolgungshindernisse bestehen, teilte eine Sprecherin des Gerichts mit.

Eine Strafverfolgung wegen NS-Verbrechen ist in Deutschland nur noch wegen Mordes oder Beihilfe dazu möglich. Nur bei Todes- und Vernichtungslagern, deren Zweck die systematische Tötung sämtlicher Gefangener war, gilt nach der deutschen Rechtsprechung bereits die Zugehörigkeit zur Wachmannschaft auch ohne konkretere Tatnachweise als Mordbeihilfe.

Die Überreste des Krematoriums in Stutthof. 65.000 Menschen kamen im dem Lager bei Danzig ums Leben.
Die Überreste des Krematoriums in Stutthof. 65.000 Menschen kamen im dem Lager bei Danzig ums Leben. © Muzeum Stutthof in SztutowO

Weitere Anklage gegen einen 100-Jährigen in Neuruppin

Fast zeitgleich mit der Anklage gegen Irmgard F. wurde ein weiteres Verfahren gegen einen inzwischen 100-Jährigen ehemaligen Wachmann im KZ Sachsenhausen eröffnet. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin wirft dem Mann Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen vor.

Mehr zum Thema:Viele junge Deutsche wissen kaum etwas über den Holocaust

Er soll zwischen 1942 und 1945 „wissentlich und willentlich“ an der Ermordung von Lagerinsassen mitgewirkt haben: der Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen im Jahr 1942, Beihilfe zur Ermordung von Häftlingen durch das Giftgas Zy­klon B und der Tötung der Häftlinge durch die Schaffung lebensfeindlicher Bedingungen.

Durch die Nähe zur Berliner Gestapozentrale hatte Sachsenhausen bei Oranienburg eine besondere Rolle im KZ-System. Das Lager war gleichzeitig Ausbildungsstätte für KZ-Kommandanten und Wachpersonal. 200.000 Menschen wurden nach Sachsenhausen deportiert. Durch eine Genickschussanlage sollen etwa 13.000 bis 18.000 sowjetische Kriegsgefangene und insgesamt mehrere Zehntausend Gefangene getötet worden sein.

Zählappell bei Eiseskälte: Das Konzentrationslager Sachsenhausen im Februar 1941. Zehntausende starben in dem KZ bei Oranienburg.
Zählappell bei Eiseskälte: Das Konzentrationslager Sachsenhausen im Februar 1941. Zehntausende starben in dem KZ bei Oranienburg. © Getty Images | Paul Popper/Popperfoto

Auschwitz Komitee wirft deutscher Justiz Versäumnisse vor

Laut Staatsanwaltschaft sei der 100-Jährige, der in Brandenburg leben soll, „eingeschränkt verhandlungsfähig“. Auch in diesem Fall muss das Landgericht Neuruppin entscheiden, ob es die Anklage zulässt. Im Falle seiner Verurteilung drohe ihm eine Freiheitsstrafe zwischen 3 und 15 Jahren.

Weiteres zum Thema:Holocaust-Überlebender: „Erzählen Sie endlich die Wahrheit!“

Auf diese Prozesse haben die Überlebenden des Holocausts „ihr ganzes Leben gewartet“ sowie darauf, „dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden“, sagte Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee. „Dass dies erst jetzt geschieht, ist ein Versagen und ein Versäumnis der deutschen Justiz, das sich über Jahrzehnte erstreckt hat.“

Zum tödlichen Räderwerk der deutschen Konzentrationslager gehörten auch die jetzt angeklagte Sekretärin und der Wachmann. „Nicht nur für sie hat die Gerechtigkeit kein Verfallsdatum.“ Deshalb seien diese Prozesse noch immer wichtig. Auch wenn es für die Überlebenden fast bizarr wirke, dass diese Prozesse in einer Zeit stattfänden, „in der neue Nazis schon wieder zu Hass aufrufen und das verherrlichen, was in den Lagern geschehen ist“, so Heubner.

Sowohl das Landgericht Itzehoe als auch Neuruppin wollten sich auf Nachfrage nicht auf einen Prozessbeginn festlegen.