Berlin. Friedrich Merz über das Drama in den Flüchtlingslagern, die Lockerung von Corona-Beschränkungen und seine Chancen auf den CDU-Vorsitz.

Friedrich Merz sitzt in einer Dachstube seines Hauses im sauerländischen Arnsberg und schaltet den Computer ein: Interview mit unserer Redaktion, zwei Wochen vor dem Parteitag, auf dem sich entscheidet, ob der frühere Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion doch noch Erbe der Ära Merkel werden kann. Es ist 9 Uhr morgens und Merz ist schon im Angriffsmodus.

Sie waren sicher, dass Sie CDU-Vorsitzender werden - und haben dann gegen Annegret Kramp-Karrenbauer verloren. Wie schätzen Sie jetzt - 25 Monate später - Ihre Siegchancen ein, Herr Merz?

Friedrich Merz: Sicher war ich mir keineswegs, aber ich habe es damals geschafft, innerhalb von fünf Wochen von null auf 48 Prozent zu kommen. Dieses Mal habe ich deutlich mehr Zeit, mich auf die Wahl vorzubereiten. Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, aber ich kämpfe natürlich bis zum Parteitag um jede Stimme.

Zu seinen Chancen auf den CDU-Parteivorsitz sagt Merz, er liege in den Umfragen in der Spitzengruppe,
Zu seinen Chancen auf den CDU-Parteivorsitz sagt Merz, er liege in den Umfragen in der Spitzengruppe, "obwohl ich zurzeit gar kein politisches Amt habe. Lassen Sie uns nach dem Parteitag in Ruhe die Lage anschauen". © Bernd von Jutrczenka/dpa

Und wenn es klappt, streben Sie mit aller Macht ins Kanzleramt?

Merz: Die beiden Parteivorsitzenden von CDU und CSU werden sich nach unserem Parteitag über die Kanzlerkandidatur unterhalten. Historisch betrachtet hat die CSU den Kanzlerkandidaten dann gestellt, wenn größere Teile der CDU das auch wollten. Ich sehe heute keine ähnliche Situation wie 2002 oder 1980. Aber der gegenseitige Respekt gebietet, dass CDU und CSU das miteinander besprechen und den Kanzlerkandidaten nicht einseitig ausrufen.

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Sie sind von Ihrer Forderung abgerückt, den Spitzenkandidaten so früh wie möglich zu benennen. Damit kommen Sie CSU-Chef Markus Söder entgegen. Wie ist das zu verstehen?

Merz: Ich habe gelesen, das soll sogar ein Strategiewechsel gewesen sein. Nein, ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir die Entscheidung bald treffen sollten. Trotzdem gibt es gute Gründe, zum Beispiel zu warten, bis die Führungsgremien von CDU und CSU diese Entscheidung in einer gemeinsamen Präsenzveranstaltung treffen und veröffentlichen können. Meine Äußerung ist schlicht dem Umstand geschuldet, dass es sich um zwei selbstständige Parteien handelt, die diese Entscheidung gemeinsam zu treffen haben.

Es hätte eine gewisse Logik, den Kandidaten mit den besten Aussichten zu nominieren: In den Umfragen schneidet Söder am besten ab…

Merz: Und ich liege in den Umfragen in der Spitzengruppe, obwohl ich zurzeit gar kein politisches Amt habe. Lassen Sie uns nach dem Parteitag in Ruhe die Lage anschauen.

Sie stehen für einen Bruch mit der Ära Merkel. Legt es die Union überhaupt darauf an?

Merz: Wie kommen Sie auf diese Formulierung? Die Neuwahl eines Parteivorsitzenden ist immer eine Zäsur, aber kein Bruch, schon gar nicht nach 16 erfolgreichen Jahren. Es gibt in der Union den berechtigten Anspruch, dass wir uns für die nächsten zehn Jahre inhaltlich und politisch so aufstellen, dass wir auch in Zukunft die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland erreichen. Dafür stehen alle drei Kandidaten - mit unterschiedlichen Schwerpunkten und vielleicht einem grundlegenden Unterschied …

… der wäre?

Merz: Wie deutlich wir unser Profil herausarbeiten müssen. Wir sollten nach meiner Überzeugung in die nächste Bundestagswahl mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber unseren Wettbewerbern gehen. Das heißt im Klartext: Wir müssen uns inhaltlich in einigen Fragen festlegen.

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Nehmen wir die Frage der Migration. Was halten Sie für geboten, um das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer zu beenden?

Merz: Ich sehe das genauso wie die Bundeskanzlerin: Was 2015/16 geschehen ist, darf sich nicht wiederholen. Wir müssen deshalb eine gemeinsame europäische Asyl- und Einwanderungspolitik entwickeln - bis hin zu der Entscheidung, die Aufnahme, Verteilung und gegebenenfalls die Rückführung von Flüchtlingen überwiegend an den europäischen Außengrenzen zu organisieren. Dort sollten weiter entsprechende Zentren geschaffen werden, wo der Asyl- oder Flüchtlingsstatus geklärt und über Aufnahme oder Ablehnung entschieden wird. Das ist eine unverzichtbare Schlussfolgerung aus der Flüchtlingskrise.

Was bedeutet das für die Seenotrettung im Mittelmeer? Wohin sollen die Flüchtlinge gebracht werden?

Merz: Das Beste wäre, diese Menschen würden erst gar nicht losfahren. Europa muss Verabredungen mit den Herkunfts- bzw. Transitländern treffen, um diese illegale und lebensbedrohliche Migration über das Mittelmeer noch in den Ausgangsländern zu unterbinden. Die klare Botschaft an die Flüchtlinge wie an die Schlepperorganisationen muss sein: Es ist lebensgefährlich, und es wird keinen Erfolg haben.

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    Welche Botschaft sendet Deutschland mit seiner Abschiebepraxis?

    Merz: Deutschland ist in den letzten Jahren bei den Abschiebungen nicht überall konsequent genug gewesen, das muss sich ändern. Ich mache mir aber auch keine Illusionen: Wir werden bis auf weiteres nicht in dem Umfang abschieben können, wie das eigentlich notwendig wäre. Schauen Sie zum Beispiel nach Syrien: Das Moratorium ist zum Jahreswechsel ausgelaufen. Trotzdem werden Abschiebungen faktisch und rechtlich an Grenzen stoßen. Es gibt keine Flugverbindungen nach Syrien und auch keine offenen Landwege. Syrien ist ein zutiefst vom Bürgerkrieg zerrissenes Land. Da gibt es auch humanitäre Grenzen der Abschiebung. Abschiebungen nach Syrien werden daher nur in Einzelfällen möglich sein.

    Was soll aus den Flüchtlingen in den Elendslagern auf Lesbos oder in Bosnien werden?

    Merz: Die gesamte Europäische Union hat vor allem die Verpflichtung, den Flüchtlingen auf dem Balkan oder auf den griechischen Inseln an Ort und Stelle zu helfen. Das tut die Europäische Union ja auch. Teilweise weigern sich die Flüchtlinge, neue Unterkünfte zu beziehen. Teilweise versuchen die betroffenen Staaten auch gar nicht, Flüchtlinge auf andere Länder der Europäischen Union zu verteilen. Diese humanitäre Katastrophe lässt sich allerdings nicht dadurch lösen, dass wir sagen: Kommt alle nach Deutschland. Dieser Weg ist nicht mehr geöffnet.

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    Sie meinen, wir müssen dem Elend zuschauen?

    Merz: Nein, und das tut Deutschland ja auch nicht. Es geht darum, an Ort und Stelle die Situation der Menschen zu verbessern. Dafür hat Deutschland bereits überproportional viel Geld zur Verfügung gestellt. Die Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, das kann nicht die Lösung sein.

    Einige Hoffnung gibt es in der Corona-Pandemie - die Impfungen haben begonnen. Aber selbst in Deutschland mangelt es an Impfstoff, obwohl das Vakzin in Mainz entwickelt wurde. Was ist schiefgelaufen?

    Merz: Das Problem scheint bei den nationalen Bestellungen des Impfstoffs zu liegen. Aber das sollten Sie den Bundesgesundheitsminister fragen.

    Sie werden eine Vorstellung davon haben, wie die Impfstoffproduktion angekurbelt werden kann.

    Merz: Wir haben offensichtlich ein ganz grundsätzliches Problem: Wir haben in Deutschland praktisch keine pharmazeutische Produktion mehr. Das wird jetzt wie in einem Brennglas deutlich, weil wir alle dringend den Impfstoff brauchen. Vielleicht ist das ein Weckruf an die deutsche Politik und auch an die deutsche Gesellschaft, dass wir nämlich die pharmazeutische Industrieproduktion in Deutschland wieder aufbauen müssen. Das ganze auszulagern nach Indien und nach China war ein Irrweg.

    Kurzfristig hilft diese Erkenntnis nicht.

    Merz: Ich möchte dem Bundesgesundheitsminister keine Ratschläge aus der Ferne geben. Er wird wissen, was er zu tun hat.

    Sind Sie einverstanden mit der Reihenfolge, in der geimpft wird?

    Merz: Ja, sofern so schnell wie möglich auch das Personal in den Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeheimen berücksichtigt wird. Das sind die Helden des Corona-Alltags, und die haben Anspruch darauf, so schnell wie möglich geschützt zu werden.

    Persönlich können Sie unbesorgt sein. Sie hatten Corona schon.

    Merz: Trotzdem werde ich mich impfen lassen, sobald es möglich ist. Mein Hausarzt sagt mir, dass meine Immunität gegen das Virus abnimmt. Ich hatte eine relativ leichte Infektion. Und es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen der Schwere der Erkrankung und der Dauer der Immunität.

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    In einigen Tagen schalten sich die Regierungschefs von Bund und Ländern wieder zusammen. Welche Entscheidungen erwarten Sie?

    Merz: Ich wünsche mir ein möglichst einheitliches Vorgehen. Was mich am meisten beschwert, ist nicht der ökonomische Schaden durch den Lockdown, sondern der massive Schaden in der Bildung unserer Kinder durch die geschlossenen Schulen. Darunter leiden vor allem die Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien. Das ist meines Erachtens die größte Herausforderung in und nach der Pandemie.

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      Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann sieht sich Rücktrittsforderungen ausgesetzt, weil sie die Schulen am 10. Januar wieder öffnen will.

      Merz: Susanne Eisenmann hat den Mut, etwas Richtiges zu sagen, dass nämlich die Schulen so schnell wie möglich wieder geöffnet werden müssen. Und es ist ja auch der politische Wille aller Beteiligten, je nach Inzidenzlage in diese Richtung zu gehen.

      Sollten Prüfungen erleichtert oder Noten angehoben werden, um Abiturienten in diesem Corona-Jahr einen besseren Start an den Universitäten zu ermöglichen?

      Merz: Wir sollten die Lücken, die jetzt im analogen Unterricht entstehen, durch gute digitale Formate schließen. Und auch da muss man leider sagen: Der vergangene Sommer ist nicht genügend genutzt worden, um digitalen Unterricht vorzubereiten. Ich bedauere das wirklich sehr.

      Finanzminister Olaf Scholz will Corona-Sonderhilfen zahlen, so lange der Lockdown dauert. Ist das vernünftig?

      Merz: Bevor jetzt noch mehr Geld versprochen wird, sollte der Bundesfinanzminister erst einmal dafür sorgen, dass die sogenannten November- und Dezemberhilfen auch ausgezahlt werden.

      Wie sollen die Schulden getilgt werden?

      Merz: Zunächst einmal wäre der Hinweis nötig, dass es nicht unbegrenzt so weitergehen kann. Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen Finanzminister, der offensichtlich keine Grenzen beim Geldausgeben kennt. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, dass nächstes Jahr die Inflation kommt. Trotzdem müssen wir ein Ende der Ausgabenspirale in den Blick nehmen. Für mich wäre das Zieldatum 2022. In dem Jahr sollten wir zur Schuldenbremse zurückkehren. Wir müssen uns immer wieder die Dimension der jetzigen Schulden vor Augen halten: Der Bund macht in zwei Jahren so viel neue Schulden, wie mit der Schuldenbremse des Grundgesetzes in 25 Jahren, also in einem Vierteljahrhundert zulässig gewesen wäre.

      Die SPD-Führung will große Vermögen belasten, um die Schulden zu tilgen - und nennt Konrad Adenauer als Vorbild.

      Merz: Der Lastenausgleich von 1952 ist nach einem zerstörerischen Krieg richtig und notwendig gewesen. Wir sollten die Corona-Krise trotz aller Probleme nicht mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen. Wir haben in Deutschland nach wie vor eine sehr gesunde Basis unserer Volkswirtschaft.