Brüssel. London und Brüssel einigen sich auf einen Brexit Deal. Dass das so lange gedauert hat, ist nicht allein Premier Boris Johnsons Schuld.
Na endlich. Der Brexit-Schock zur Jahreswende ist abgewendet. Kurz bevor die Brexit-Übergangszeit endet, pünktlich zum Weihnachtsfest, haben sich Großbritannien und die Europäische Union in letzter Minute doch noch auf einen umfassenden Vertrag vor allem zu Handelsfragen verständigt. Auch künftig null Zölle, null Kontingente, kein Standarddumping - gute Voraussetzungen für weiter umfassende Wirtschaftsbeziehungen. Alles andere wäre auch unverantwortlich gewesen, gerade jetzt: Großbritannien und die EU werden mit den Folgen der Corona-Krise noch lange zu kämpfen haben.
Nun auch noch ein Handelschaos zu riskieren, hätte an politischen Wahnsinn gegrenzt. Nicht nur wegen des unmittelbaren wirtschaftlichen Milliardenschadens, den ein harter Bruch mit Zöllen auf praktisch alle Waren im neuen Jahr verursacht hätte. Auch die politischen Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Kontinent wären wohl für Jahre vergiftet gewesen. Es ist mehr als beunruhigend, dass Brüssel und London trotzdem monatelang auf den Abgrund zutaumelten und erst im letzten Moment kehrt machten.
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Johnson hat seine Verhandlungstaktik übertrieben
Die Schuld dafür allein dem Briten-Premier Boris Johnson zuzuschieben, ist in der EU zwar beliebt, verfälscht aber die Fakten. Klar, Johnson hat durchaus mit einem Scheitern der Verhandlungen gespielt, die negativen Folgen hätte er der Corona-Krise in die Schuhe schieben können. Er scheute das Eingeständnis an die Wähler, dass die Brexit-Kampagne auf einem Missverständnis beruhte: Man kann nicht weiter vollen Zugang zum attraktiven EU-Binnenmarkt haben, ohne die EU-Standards anzuerkennen.
Johnson hat die Kontinentaleuropäer in den Verhandlungen immer wieder gezielt provoziert. Er drohte mit einem Bruch früherer Zusagen zur Nordirland-Frage, er wollte unberechenbar erscheinen und mit Drohgebärden Richtung Brüssel seinen Wählern imponieren; doch hat er diese Taktik so übertrieben, dass man ihm am Ende gar nicht mehr trauen konnte - das pure Gift für jedes Abkommen, was die Einigung erschwerte.
Auch die EU hat lange Zeit blockiert
Aber auch die EU hat ihren Teil zur langen Blockade beigetragen. Sie wähnte sich als großer Block in der besseren Verhandlungsposition, verweigerte den Briten kühl viele jener Zugeständnisse, die es zum Beispiel Kanada im vielfach gefeierten Ceta-Abkommen gemacht hat. Die Verhandlungsstrategie war auch vom Drang geprägt, es den Briten jetzt richtig zu zeigen: Drinnen ist es schöner als draußen, das sollte die Lehre für das abtrünnige Königreich sein. Sicher, es galt für die Union, wichtige Grundsätze ihres Binnenmarktes zu verteidigen.Brüssel konnte nicht erlauben, dass ein so gewichtiger Handelspartner direkt vor der Haustür freien Zugang zum Markt bekommt, aber mit Standarddumping seinen Unternehmen auf unfaire Weise Wettbewerbsvorteile verschafft.
Aber das erklärt nicht, warum die EU etwa bis kurz vor Toresschluss Zugeständnisse bei den Fischereirechten in britischen Gewässern verweigerte - die Fisch-Frage ist für die EU wirtschaftlich völlig unbedeutend, für Johnson war sie aber ein wichtiges Symbol neuer Souveränität. Ein Einlenken Brüssels war geboten. Aber nur durch die harte Haltung auch in solchen Nebenfragen glaubten die EU-Verhandler, die Front der EU-Mitgliedstaaten geschlossen halten zu können. Dass die Briten die EU-Staaten mit ihren unterschiedlichen Interessen gegeneinander ausspielen würden, war ja die Urangst der Brüsseler Verhandler. Deshalb bewegte sich auch die Union zu zögerlich.
Joe Biden brachte den Briten-Premier zum Einlenken
Die Kompromisse, die die EU am Ende doch noch einging, sind allemal verkraftbar. Dass die Einigung zustande kam, weil die zugespitzte Corona-Krise vor allem in Großbritannien die Folgen eines Chaos-Brexit vor Augen geführt hätte, ist allerdings ein Missverständnis - bei einem Vertrag, der die Beziehungen jetzt für viele Jahre regelt, konnte sich kein Verhandler von solchen Eindrücken leiten lassen.
Stattdessen dürfen die Kontinentaleuropäer einen großen Dank nach Washington übermitteln: Dass auch Johnson einen Vertrag am Ende dringend wollte, auch wenn er das mit Theaterdonner überspielte, hat viel mit dem für ihn enttäuschenden Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen zu tun. Statt des Brexit-Bewunderes und EU-Feindes Donald Trump sitzt in Kürze der Brexit-Skeptiker und EU-Freund Joe Biden im Weißen Haus. Biden, der von irischen Einwanderern abstammt, hat Johnson mehrmals gedroht, es werde kein Handelsabkommen mit den USA geben, wenn ein harter Brexit den Frieden auf der irischen Insel gefährde. Auch die besonderen Beziehungen zu Washington standen also in Frage. Dies hat den britischen Premier wohl davon abgehalten, den harten Bruch zu risikieren.
Ohne Brexit-Vertrag stünden Johnson und seine Regierung jetzt ziemlich allein da in einer unruhigen Welt. Schwierig wird es für das Vereinigte Königreich auf seinem Sonderweg trotzdem. Und auch die EU sollte sich keine Illusionen machen. Nicht nur der Handel mit dem Drittstaat Großbritannien wird trotz Vertrag jetzt komplizierter. Auch wenn beide Seiten ihre neu begründete Partnerschaft beschwören, Konflikte sind absehbar. Die Beziehungen dürften unruhig bleiben.
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