Berlin. Die Suizidrate unter Polizisten wird doppelt so hoch geschätzt wie in der sonstigen Bevölkerung. Ein ehemaliger Polizist erzählt.

Der Moment, der den Kriminalbeamten Manfred Schneider das erste Mal in die psychiatrische Klinik bringt, ist ganz alltäglich. Er sitzt in seinem Einzelbüro in der Dienststelle in Ingelheim, Rheinland-Pfalz. Ein Frühlingstag wie viele andere. Schneider soll einen Zeugen anrufen, um ihn zur Vernehmung vorzuladen.

Eine Routinehandlung, so erinnert er sich heute an diesen Tag vor 20 Jahren. Schneider muss den Telefonhörer abnehmen. Doch etwas blockiert ihn. Er fühlt sich „wie gefangen“. Steht auf, läuft wie ein Tiger in seinem Käfig im Büro auf und ab. Zehn Minuten. 20 Minuten. Mehr als 30 Minuten.

„Ich war nicht mehr aktionsfähig. ,Wenn ich mir jetzt nicht Hilfe hole’, dachte ich, ,weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich mache’”, sagt Schneider. Nach einer halben Stunde der Hilflosigkeit in seinem Büro an jenem Tag fängt er sich wieder. Er spricht mit seinem Chef. Der zeigt Verständnis, schickt ihn nach Hause und nimmt ihn erst mal raus aus den Diensten.

Für Hilfe war es damals höchste Zeit. Bis zu dem Tag hatte Schneider schon zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen.

Polizeigewerkschaft geht von verdoppelter Suizidrate aus

Wie vielen Polizistinnen und Polizisten in Deutschland es ähnlich geht wie Manfred Schneider, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Sie werden nicht erfasst. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) schätzt aber, dass die Rate der Suizide unter Polizistinnen und Polizisten fast doppelt so hoch ist wie in der Gesamtbevölkerung.

„Viele dienstliche Erlebnisse sind belastend: schwere Verkehrsunfälle, die Bearbeitung von Kinderpornografie, der Einsatz in sozialen Brennpunkten – kurzum, vieles, was den polizeilichen Alltag ausmacht“, sagte Michael Mertens, stellvertretender Bundesvorsitzender der GdP, unserer Redaktion.

Mertens fordert, dass bundesweit valide Zahlen erhoben werden. „Wir müssen wissen, wie groß das Problem ganz genau ist und brauchen eine belastbare Statistik”.

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Dass es diese Zahlen bis heute in vielen Bundesländern nicht gibt, hat unterschiedliche Gründe, wie Recherchen unserer Redaktion ergaben. So müssen die Angehörigen den Arbeitgebern erst mitteilen, dass es sich bei dem Tod auch tatsächlich um einen Suizid handelt – und selbst dann ist ein Zusammenhang mit dem Polizeidienst nicht immer zweifelsfrei erkennbar. In anderen Fällen fehlt schlicht die verlässliche Datengrundlage, um daraus Schlüsse auf die Suizidrate unter Polizistinnen und Polizisten zu ziehen.

„Als Polizist weiß man, wie man sich Schaden zufügt”

Manfred Schneider sieht den Ursprung seiner psychischen Probleme nicht ausschließlich in seinem Beruf. „Das Telefonat brachte das Fass nur zum Überlaufen“, sagt er. „Vorher haben sich schon viele kleine Mikro-Traumata in mir aufgestaut, die dann in dieser Implosion mündeten.”

Und: Wie offen kann man in einem Beruf seine vermeintlichen Schwächen zeigen, wenn dieser so eng mit Stärke, Korpsgeist und Gewalt verbunden ist? Das kritisiert auch der Ex-Polizist: „Es mangelt bei der Polizei an einer offenen Gesprächskultur.“

Manfred Schneider spricht offen über seine Depressionen, er möchte mehr Bewusstsein für psychische Erkrankungen bei Polizisten schaffen. Und er betont: „Als Polizist weiß man, wie man sich Schaden zufügt. Deshalb ist die Situation für schwer depressive Polizisten so gefährlich”, sagt der 58-Jährige.

„Wenn der Vorgesetzte nach belastenden Einsätzen nicht offen für Gespräche ist, fühlt man sich als Beamter allein gelassen”, sagt er. Der Bad Kreuznacher ist heute außer Dienst. Er ist wegen seiner Depression und Schlafapnoe – Atemaussetzern in der Nacht – seit Ende 2019 im vorzeitigen Ruhestand.

Der frühere Polizist Manfred Schneider auf dem Berliner Gendarmenmarkt.
Der frühere Polizist Manfred Schneider auf dem Berliner Gendarmenmarkt. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Depressionen sind ein häufiger Grund fürs verfrühte Ausscheiden aus dem Arbeitsleben. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe wurden vor 35 Jahren noch lediglich neun Prozent aller Frühverrentungen auf psychische Erkrankungen zurückgeführt. Heute sind es 43 Prozent. Und das nicht, weil es tatsächlich mehr Erkrankungen gibt, sondern weil sich mehr Betroffene Hilfe suchen, weil Ärzte Depressionen häufiger erkennen und nicht hinter anderen Diagnosen verstecken. Immerhin: In den vergangenen 35 Jahren hat sich die Zahl der Suizide laut Depressionshilfe in Deutschland von 18.000 jährlich auf rund 9400 fast halbiert.

Der ehemalige Polizist Manfred Schneider erzählt, wie andere Kriminalbeamte die Belastung des Dienstes einfach im Feierabend anscheinend einfach abschüttelten. Auf ihm dagegen haben sie gelastet: „Man erlebt im Dienst immer wieder sehr frustrierende Situationen: zum Beispiel Verdächtige, die festgesetzt werden, aber aus Mangel an Beweisen kurz darauf wieder entlassen werden”, sagt Schneider. Brutale Ehestreitigkeiten, Messerstechereien, Raub.

„Mit fehlten einfach die Ressourcen, um die tagtäglichen Aufgaben zu bewältigen – wie bei einer übervollen Computerfestplatte, die den Betrieb lähmt”, erinnert er sich.

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Mutter und Sohn ergriffen die Flucht

Kompliziert war Manfred Schneiders Leben, seit er denken kann. Sein Vater trank, die Mutter schwieg dazu. Er selbst versank in Schwermut, während seine Mitschüler sich zum Fußball trafen und Partys feierten. „Eine Beziehung zu meinem Vater hatte ich nicht. Ich bin ihm immer nur wie ein Hund hinterhergelaufen”, sagt der heute 58-Jährige.

Der Vater sprach mit ihm nur im Befehlston. „Hast du das gehört!?“, knallte er dem Jungen jede seiner Anweisungen an den Kopf. Daraus wurde eine Anrede für den Sohn, die der Vater bald nur noch benutzte. „Gehört“. Gehört, komm her! Gehört, mach das! Gehört, tu das! „Manfred hat er mich nie genannt“, sagt Schneider.

Als es nicht mehr ging, ergriffen Mutter und Sohn die Flucht. Manfred hatte selbst darauf gedrängt, 14 Jahre war er da. Wie es weitergehen sollte, war nicht klar - einfach nur raus. Mit nichts als den Kleidern am Leib und den Ausweisen im Geldbeutel.

„Klinikaufenthalte retteten mir das Leben“

Die Ausbildung zum Polizisten verhieß Besseres. Schneider begann sie, als er 16 war, weil er es besser machen wollte als sein Vater, weil er Menschen helfen wollte. „Außerdem brauchten meine Mutter und ich Geld, und als Auszubildender verdient man ab dem ersten Monat.”

„Ich hatte diese Idealvorstellung: Erst werde ich Polizist, dann finde ich eine Frau, mit der ich Kinder bekomme und alles wird gut”, sagt er. „Nichts davon ist eingetreten – weil mir meine Psyche immer wieder im Weg stand.”

Beziehungen zu Frauen funktionierten nicht, Freunde hatten immer nur andere. Irgendwann habe er das Gefühl gehabt, dass sich „das alles nicht mehr rentiert“. Er wollte nicht mehr weiter. Der damalige Polizeibeamte versuchte, sich mit einem Kabel zu erhängen. Ein anderes Mal wollte er sich in den Tod stürzen – von einem mehr als 300 Meter hohen Fels bei Bad Kreuznach.

„Die Klinikaufenthalte retteten mir das Leben”, sagt Schneider. Benzodiazepine, Neuroleptika und andere Beruhigungsmittel – eine ganze Reihe von Medikamenten erhielt er anfangs, um überhaupt therapiert werden zu können. Zwölf Wochen blieb er das erste Mal in der Klinik.

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Gewerkschaften fordern bessere Hilfsangebote

Hätte eine frühzeitige Hilfe verhindern können, dass es überhaupt soweit kommt? Das lässt sich heute nicht sagen. Klar ist: Bei den Recherchen unserer Redaktion äußerten viele Polizeigewerkschaften den Wunsch nach besseren Hilfsangeboten für Beamtinnen und Beamte mit psychischen Problemen.

Polizisten sind fast täglich mit fordernden Situationen konfrontiert - das kann auch schwer die Psyche belasten.
Polizisten sind fast täglich mit fordernden Situationen konfrontiert - das kann auch schwer die Psyche belasten. © dpa | Peter Steffen

Und in vielen Ländern gibt es sie bereits: speziell geschulte soziale Ansprechpartner, Sozialberaterinnen, Polizeiseelsorgerinnen und Betriebsmediziner. Doch reichen die Stellen auch aus? In der Landespolizei Schleswig-Holstein zum Beispiel besteht der psychosoziale Dienst aus nur zwei Psychologinnen, kritisiert die dortige Polizeigewerkschaft.

Wie auch beim Thema Rechtsradikalität wünscht sich Manfred Schneider beim Thema Depression einen offeneren Umgang mit dem Problem. „Die Hürde, sich Hilfe zu holen, muss weiter sinken”, sagt er. Um das zu erreichen, arbeitet er als sogenannter sozialer Ansprechpartner, obwohl er im Ruhestand ist. In der Kommunalverwaltung will er Führungskräfte dafür sensibilisieren, wie wichtig die seelische Gesundheit der Mitarbeitenden und die der Vorgesetzten selbst ist.

Vorgesetzten haben bei Thema oft Berührungsängste

Das zeigte sich am Beispiel eines Ex-Kollegen, der auch mehrere Suizidversuche hinter sich hatte. Schneider sprach mit dessen Freundin, und auch mehrere Stunden mit dem Schutzpolizisten selbst, der in einer Akutpsychiatrie behandelt wurde. „Nach einigen Stunden bot er mir das Du an. Er fühlte sich verstanden, sagte er, und hat neuen Mut gewonnen.”

Solche Situationen gebe es im Alltag eines Polizisten nur selten. Schneider hat in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen immer wieder den Eindruck gewonnen, dass viele Vorgesetzte bei Therapien für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch Berührungsängste haben. „Ein Fehler. Denn wer sich nicht um seine seelische Gesundheit kümmert, fällt dann häufig sehr viel länger aus”, sagt er. Oder schlimmer noch: Der kehrt gar nicht mehr zurück.

  • Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der Nachahmungsgefahr berichten wir in der Regel nicht über Suizide bzw. Suizidversuche. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, dass positive Beispiele (wie im vorliegenden Fall) Menschen helfen können, ihre Erkrankung zu bewältigen. Wenn Sie sich in einer akuten Krise mit Suizidgedanken befinden, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt bzw. die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112. Sie erreichen die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.