Orlando. Der US-Bundesstaat Florida spielt mit seinem hohen Anteil an Senioren eine Schlüsselrolle beim Kampf ums Weiße Haus. Ein Ortsbesuch.
Chris Stanley hat ihre Kampfansage gegen Donald Trump immer dabei, auch ohne etwas zu sagen: „Pack ihn beim Stimmzettel“ steht in Abwandlung eines sexistischen Skandalspruchs des Präsidenten auf der Corona-Schutzmaske der Vorsitzenden der Demokraten in „The Villages“.
In der größten Seniorenwohnanlage der USA 80 Kilometer nordwestlich von Orlando im Bundesstaat Florida kann sich am 3. November herausmendeln, wer ab 20. Januar im Weißen Haus sitzt. Joe Biden – oder der Amtsinhaber.
Die 130.000 Bewohner (Altersdurchschnitt um die 70), die hier zwischen künstlich angelegten Erlebnisdörfern, Seen, Fitnesscentern, 100 Tennis- und 50 Golfplätzen mit 60.000 Gokart-ähnlichen Elektrofahrzeugen herumdüsen, gehören zu den am meisten beachteten Wählergruppen in Amerika.
Trump gewann 2016 in Florida mit hauchdünnem Vorsprung
Das kommt so: Florida ist mit 21,5 Millionen Einwohnern – davon 30 Prozent über 65 – bei jeder Wahl unter den Schlüsselstaaten sozusagen der Generalschlüsselstaat. Wer die ältere Generation gewinnt und hier die Nase vorn hat, greift 29 Wahlmännerstimmen ab und holt meist auch die Präsidentschaft.
Donald Trumps Vorsprung vor Hillary Clinton machte vor vier Jahren in ganz Florida 113.000 Stimmen aus – hauchdünne 1,2 Prozentpunkte. In den „Villages“, wo solvente Mittelschichtler dem Winter entfliehen und die Happy Hour in Bars und Restaurants gelegentlich schon nach dem Mittagessen einläuten, waren es 17 Prozentpunkte. Eine sichere Bank, möchte man meinen.
Dass Donald Trump am Freitag zur Last-minute-Wählerbeschmeichelung unter heißer Spätherbst-Sonne in den „Dörfern“ einschwebte, zeigt für Chris Stanley etwas anderes: „schleichende Erosion“. In den Umfragen liegt Joe Biden laut der unabhängigen Webseite www.realclearpolitics.com in Florida aktuell mit 1,5 Prozentpunkten vor Trump.
Demokratin Stanley: Trump „demokratiezersetzend“
In Stanleys Parteibüro tauchten seit Wochen Leute vom anderen politischen Ufer auf, erzählt die 56-Jährige. Tenor: „Ich bin Republikaner. Das bleibt auch so. Wie kann ich trotzdem helfen, damit wir den Kerl im Weißen Haus loswerden?“ Und das nicht etwa wegen Corona, obwohl die Älteren statistisch am stärksten betroffen sind.
„Nein, die Leute sorgen sich um ihre Sozialversicherung, die durch die auf Lohn und Gehalt erhobene ‚Payroll-Tax‘ finanziert wird.“ Trump will die Steuer abschaffen.
Chris Stanley kalkuliert, dass der Präsident, den sie anders als Herausforderer Joe Biden für „gefährlich“ und „demokratiezersetzend“ hält, in den „Dörfern“ tüchtig einbüßt. Was bei 58.000 eingetragenen republikanischen Wählern, 22.000 Demokraten und 23.000 Unabhängigen keine Peanuts wären.
Die Aussicht darauf hat in den „Villages“ parallel zur Polarisierung im ganzen Land zu viel Zwietracht geführt.
Kampf der Senioren: Geklaute Wahlplakate und Kotbeutel
Nach der Devise „Je oller, desto doller“ rasseln Rentner mit verschiedener Parteizugehörigkeit physisch zusammen, berichtet Stanley – ob bei der Wassergymnastik oder beim Einlochen auf dem Golfplatz.
Wahlplakate werden aus den Vorgärten geklaut. Wer im Supermarkt mit Atemschutzmaske angetroffen wird, wird als politisches Hascherl beschimpft. Ab und zu landen sogar Beutel mit Kot in den mit Aufklebern politisch eindeutig identifizierbaren Golfkarts.
Trump weiß das. Er bedankte sich ausdrücklich bei jenen, die sich für ihn prügeln.
John Calandro will von „Krieg im Rentner-Mekka“ nichts wissen. Der pensionierte Auto-Manager ist nach dem Umzug aus Detroit Aktivist im Ortsverein der Republikaner geworden. Enttäuschte Alte, die zu Biden abgewandert sind? Eine „Mär“.
Rentner hoffen durch Trump auf bessere Rendite
Nach 2016 hätten über 3000 „Villages“-People die Parteiorientierung gewechselt. „Zwei Drittel davon kamen zu uns.“ Auch darum werde man am 3. November „leicht 30.000 Stimmen plus x mehr als die anderen einfahren“.
Schließlich gebe es für Trump unschlagbare Gründe. „Viele von uns haben Aktien als Altersversorgung“, sagt der 67-Jährige, „wir wollen unseren Lebensstandard halten. Die Börsen sind also wichtig. Donald Trump hat hier echt geliefert.“
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Was die „radikalen Linken“ der Demokraten mit ihren Gratisangeboten in Bildung und Gesundheitswesen wollten, mache ihn sehr skeptisch. „Irgendwer muss doch dafür bezahlen“, sagt Calandro vor der Republikaner-Zentrale am Paddock Square und schaut auf die Uhr.
Ein dänisches Fernsehteam wartet auf ihn, als plötzlich ein schrill hupender Korso aus fünf Dutzend Autos und kleinen Golf-Caddies anrollt. Aus den Lautsprechern plärren Trump-Evergreens wie „Drain The Swamp“ (Lege den Sumpf trocken) und „Build The Wall – Crime Will Fall“ (Bau die Mauer – das Verbrechen wird zurückgehen). Frauen im reifen Alter spielen durchs Schiebedach mit Plakaten Polit-Pin-up-Girl.
Kein Teilnehmer der mobilen Pro-Trump-Rally trägt Maske. Am Straßenrand gehen bei Passanten mehr Daumen hoch als Mittelfinger.
Hispanics zwischen Anti-Sozialismus und tiefer Abneigung für Trump
Auch Stan Swies ist begeistert. Der 77-jährige Ex-Versicherungsmakler ist mit seiner orangefarbenen Perücke, dem blauen Anzug und der roten Krawatte als Trump-Imitator eine landesweit bekannte Marke. „Für Politiker, die glatt polierte Reden halten, aber nichts auf die Reihe kriegen, ist die Zeit abgelaufen“, sagt der auf polnische Wurzeln verweisende Swies, „Trump ist mein Mann der Stunde.“
Was im zweiten wichtigen Wählersegment Floridas umstritten ist. Wie der spanischsprachige TV-Sender Univision berichtet, tendieren 52 Prozent der Hispanics zu Joe Biden. Nur 36 Prozent bevorzugen Trump. Der Rest ist noch unentschieden.
Dass die Einwanderergemeinde aus dem Hinterhof der USA kein homogener Block ist, macht den Wahlkampf anspruchsvoll. Während Hispanics mit kubanischen Wurzeln die anti-sozialistische Rhetorik des Präsidenten immer noch heruntergeht wie Öl, dominiert bei Einwanderern aus Haiti, von Trump mal als „Drecksloch“ bezeichnet, und Puerto Ricanern der Groll auf „el presidente“.
„Trump hat uns im Stich gelassen“
Beispiel: Benjamin Rivera. Der auf der zu Amerika gehörenden Karibik-Insel Puerto Rico geborene Lkw-Fahrer, dem ein umgeknickter Baum Führerhaus, Job und nach Schädeltrauma das Konzentrationsvermögen geraubt hat, schimpft.
„Trump hat uns nach Hurrikan Maria 2017 auf Puerto Rico im Stich gelassen. Später wollte er die Insel sogar gegen Grönland eintauschen. Ich war Republikaner mein ganzes Leben. Aber ich kann diesen Mann nicht wählen. Er ist ein Scharlatan.“ Was ihn, Sohn eines Pastors, besonders anwidert: „Gott hört und sieht alles. Aber der Trump-Clan kennt nur einen Gott: Geld.“
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Rivera sagt, dass viele Landsleute Trump einen Denkzettel verpassen wollen. Das kann sich auswirken. Nach Maria kamen Hunderttausende Puerto Ricaner aufs Festland. Sie sind US-Staatsbürger. Und anders als auf der Insel können sie am 3. November mitbestimmen, wer ins Weiße Haus einzieht. „Wir sind ein Faktor“, sagt Rivera, „und viele sind wütend.“
Republikaner wechseln wegen schlechtem Krisenmanagement die Seiten
Beispiel: Angela Garcia. Als in Florida das Frühwählen (early voting) beginnt, ist die dreifache Mutter unter den Ersten, die sich am Robert Guevara Community Center in Kissimmee südlich Orlandos in der Warteschlange einreihen. Garcia, puerto-ricanische Wurzeln, ist Republikanerin, hat aber Biden gewählt, obwohl sie schätzt, was Trump für „kleine Geschäftsleute“ getan hat.
Grund für den Seitenwechsel: José Garcia, ihr Vater, der wegen einer Lebertransplantation besonders gefährdet war, starb im Mai an Corona. Er war erst 63. Die Grundschullehrerin ist sich sicher, dass er noch leben würde, hätte die Regierung nicht „total versagt“.
Dass Trumps Republikaner jetzt auch noch ein neues finanzielles Hilfspaket erschwerten, sei der letzte Tropfen gewesen. „Schüler haben Hunger, die Eltern haben Jobs und Häuser verloren. Der Präsident spielt mit dem Leben von Menschen.“
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