Berlin. Das Innenministerium warnt vor einer weiteren Radikalisierung der sogenannten Reichsbürger. Nun schaltet sich die Terrorabwehr ein.
Die sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter sind seit dem Ausbruch des Coronavirus aktiver denn je. Die staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie hätten „zu einer erhöhten Dynamik und Aktivität“ in Teilen der Szene geführt, heißt es in der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linken im Bundestag. Die Corona-Maßnahmen des Staates böten Reichsbürgern die „Möglichkeit zu neuer Propaganda gegen die Bundesrepublik“.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz rechnet dem Milieu rund 19.000 Personen zu. Wie hellhörig die Sicherheitsbehörden geworden sind, zeigt eine andere Zahl: Zwischen September 2018 und September 2020 – in zwei Jahren – hat sich das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum in Berlin 100-mal mit Reichsbürgern befasst.
Auf der Außentreppe des Reichstages
Die verbale Radikalität scheine sich erhöht zu haben, heißt es in der 19-seitigen Ministeriumsantwort. Der Verfassungsschutz identifizierte Reichsbürger beim „Sturm auf Berlin“ am 29. August – und auch unter den 300 bis 400 Demonstranten, die auf der Außentreppe des Reichstages schwarz-weiß-rote Flaggen schwenkten. Aus der Sicht von Reichsbürgern ist sie die vermeintlich einzige legitime Fahne und ein Identifikationssymbol.
Mehrere Bundesländer wollen dem Beispiel Bremens folgen und das Zeigen der Reichskriegsflagge in der Öffentlichkeit verbieten. Niedersachsen und Bayern haben es angekündigt, in Nordrhein-Westfalen zeichnet sich das auch ab. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will auf der Innenministerkonferenz Ende des Jahres auf „ein bundesweit einheitliches Vorgehen“ dringen.
„Verschwörungsaffine Milieus“
Die Behörden beobachten, wie ein Teil der Szene Anschluss an „verschwörungsaffine Milieus“ sucht. Das Milieu der „Reichsbürger und Selbstverwalter zeigt eine große Affinität zu Verschwörungstheorien“, teilt das Innenministerium mit. Inhalte der „QAnon“-Bewegung würden aufgenommen und verbreitet.
Zuletzt sei in verschiedenen Zusammenhängen aufgefallen, dass bekannte „Reichsbürger und Selbstverwalter“ das Motto „WWG1WGA“ nutzen. Das Kürzel steht für den Slogan, der mit „QAnon“ assoziiert wird: „Where we go one, we go all“, auf Deutsch: Wohin wir gehen, gehen wir alle.
In Deutschland weltweit zweitgrößte Anhängerschaft.
Der größte deutschsprachige Telegram-Kanal der Bewegung hat mehr als 120.000 Abonnenten: Esoteriker, Impfgegner, Rechtsextreme und eben Reichsbürger.
Die Botschaften klingen zumeist rätselhaft, auf einen Nenner gebracht: „QAnon“-Anhänger glauben allen Ernstes, dass eine Elite aus pädophilen Politikern in den USA einen Kinderhandelring betreibt. Angeblich hat die US-Bewegung in Deutschland schon ihre weltweit zweitgrößte Anhängerschaft. Wenn sie sich öffentlich dazu bekennen, erkennt man sie an einem großen „Q“ zum Beispiel auf T-Shirts. Lesen Sie auch: Corona-Demonstration: Wird die rechte Gefahr unterschätzt
Andere Versatzstücke ihrer Ideologie finden die Reichsbürger bei der AfD. Der Bundesregierung liegen Informationen vor über Kontakte zu einzelnen Mitgliedern der Jugendorganisation „Junge Alternative“ und zu Anhängern des aufgelösten „Flügel“. Persönliche Kennverhältnisse und eine „gewisse Affinität“ gebe es ferner zu Russland. Sie zeigt sich in „Hilferufen“ nach der „Befreiung“ Deutschlands.
Auseinandersetzungen mit den Behörden und Ämtern
Reichsbürger verbeißen sich in Auseinandersetzungen mit den Behörden und Ämtern. Die überwiegende Zahl der Anhänger sei jedoch nicht „offen gewaltbereit“, so die Bundesregierung. 2019 verübten sie 677 Straftaten, großteils Nötigung, Bedrohung oder Propaganda. Lesen Sie auch: Kommentar: Protestler offenbaren in Berlin ihre undemokratische Haltung
Allerdings zählten die Sicherheitsbehörden auch 132 Gewaltdelikte. In den ersten 8,5 Monaten dieses Jahres verübten die Reichsbürger deutlich weniger Straftaten, insgesamt 362. Das hat damit zu tun, dass zu Beginn der Pandemie – in der Lockdown-Phase – die Ämter geschlossen waren und auch so gut wie keine Demonstrationen stattfanden.
„Zersplittert, vielschichtig und unübersichtlich
Die Szene sei „nicht homogen, sondern zersplittert, vielschichtig und unübersichtlich“, heißt es in der Regierungsantwort. Indes war die Szene im Umfeld der Großdemonstration gegen die Corona-Maßnahmen Ende August in Berlin doch „zu einem gemeinsamen und koordinierten Auftreten fähig“, gibt die Linken-Politikerin Ulla Jelpke zu bedenken. Lesen Sie auch: Wie rechtsextreme Soldaten die Bundeswehr unterwandern
Das zeige sich bei der Randale vor der Russischen Botschaft oder beim medienwirksamen Sturm auf die Reichstagstreppe. „Hier gibt es offenbar doch mehr Organisierung und Koordination, als die Bundesregierung wahrhaben will.“
Elemente der Reichsbürgerideologie übernommen
Mit der „Querdenker“-Bewegung erhielten die Reichsbürger eine neue Plattform – und umgekehrt, meint Jelpke. Diese habe Elemente der Reichsbürgerideologie übernommen: „Die Mär von der fehlenden Souveränität Deutschlands und der Nichtexistenz einer Verfassung konnte so in Teile der Bewegung gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen eindringen.“
Der Irrationalismus ihrer Ideologie und ihre organisatorische Zersplitterung sind für Jelpke keine Schwächung. Sie machten vielmehr die Unberechenbarkeit der Reichsbürger aus. Jelpke: „Wir haben es hier mit tickenden Zeitbomben zu tun.“
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