Berlin. Die zweite Corona-Welle rollt auf Deutschland zu. Da helfen weder Reden von einem „Charaktertest“ für die Nation noch Kleinstaaterei.
Wird das deutsche Corona-Märchen zu einem Albtraum? Der Rest Europas schaute im Frühling und Sommer mit einer Mischung aus Neid und Respekt auf die Deutschen. Die Organisationsweltmeister schienen auch mit einer Jahrhundertpandemie locker fertigzuwerden. Weniger als 10.000 Bürger starben in der ersten Welle durch Covid-19. Die Krankenhäuser waren nie überlastet. Der deutsche Finanzminister verteilte Hilfsmilliarden nach Belieben.
Spätestens mit dem 8. Oktober dürfte dem Letzten klar geworden sein, dass die 82-Millionen-Nation im Herzen Europas keineswegs immun ist. Die zweite Welle hat auch Deutschland mit Wucht erreicht. Mehr als 4000 Neuinfektionen an einem Tag lassen die Alarmglocken im Kanzleramt schrillen.
Als Angela Merkel vor fast 20.000 Infektionen pro Tag an Weihnachten gewarnt hat, dachte mancher wahrscheinlich noch, was hat die Kanzlerin wohl geraucht. Nun übertrifft das exponentielle Wachstum sogar den von Merkel befürchteten Korridor.
Corona-Lage ist ernst – aber die Kliniken sind gewappnet
Am Donnerstag schickte Merkel ihren Gesundheitsminister und eine Phalanx von Experten vor die Presse. Die Botschaft: Die Lage ist ernst. Sehr ernst. Ist der Trend unumkehrbar? Nein. Es besteht kein Grund zur Panik. Die Kliniken sind gewappnet. Sehr viele Intensivbetten sind frei. Deutschland hat mehr davon als Spanien und Italien zusammen. Corona-Patienten können effektiver mit Medikamenten behandelt werden als im Frühjahr. Schulen und Kinder sind keine Virenschleudern. Einen zweiten bundesweiten Lockdown darf es nicht geben. Das wäre unbezahlbar.
Infektionstreiber sind Metropolen. Gesundheitsminister Jens Spahn fragte: „Muss eine Hochzeit mit 200, 300 Gästen jetzt sein?“ Nein, muss sie nicht. Leider sehen das einige anders. Zwar gab es im ersten Halbjahr rund 30.000 Hochzeiten weniger als vor der Krise. Dennoch entpuppten sich Hochzeitsfeiern und andere Indoor-Events mit vielen Teilnehmern als Superspreader-Ereignisse. Das ist verantwortungslos.
Jeder sollte sich jetzt an die eigene Nase fassen – und stößt dabei hoffentlich auf ein Stück Stoff. Muss ich bei der Geburtstagsparty in der Nachbarwohnung dabei sein? Im Restaurant drinnen sitzen? Im Möbelhaus Kerzen kaufen?
Corona-Pandemie ist für Spahn ein „Charaktertest“ für Deutschland
Spahn spricht von einem „Charaktertest“, der dem Land bevorstehe. Das hört sich ein bisschen zu großspurig, zu oberlehrerhaft an. Weniger Macron, mehr Münster, bitte. Maskenmüdigkeit, der Wunsch nach Normalität und Nähe, nach einem Tapetenwechsel mit der Familie, das ist nach acht Monaten Pandemie völlig verständlich – und mitnichten Ausweis eines verkorksten Charakters. Die Politik muss die Menschen mitnehmen, Entscheidungen erklären, für Akzeptanz werben. Nicht verbal maßregeln, sondern selbst Regeln für Herbst und Winter schaffen, die jeder versteht.
Fußballfans im Stadion? Unnötiger Kotau vor der milliardenschweren Liga. Beherbergungsverbote auf den letzten Drücker? Die Herbstferien kamen für die Länderchefs so überraschend wie Ostern und Weihnachten. Schon klar. Kleinstaaterei statt Klartext.
Millionen Familien sitzen nun auf gepackten Koffern. Sich frei testen lassen in 48 Stunden? In Berlin sind die Labore schon am Limit. Wie wird das an Weihnachten? Nur mit negativem Test zu Oma und Opa? Weiter Sippenhaft für Großstädter, wo nur ein Bruchteil infiziert ist?
Am Freitag redet die Bundeskanzlerin mit den wichtigsten Oberbürgermeistern. Schön, gut und wichtig. Bald sollte sie wieder zur ganzen Nation sprechen. Im Fernsehen. Das verunsicherte Land steht mit der zweiten Welle an einer Weggabelung – und braucht Führung dringender denn je.