Berlin. Der Chef des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, über den Angriff vor einer Hamburger Synagoge sowie über den Anschlag von Halle.

Am Freitag jährt sich der Anschlag in Halle. Weil er nicht in das Gebäude eindringen konnte, erschoss der Täter zwei Menschen unweit der Synagoge. Der jüngste Angriff vor einer Synagoge in Hamburg weckt Erinnerungen daran. Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sprachen wir über Gefährdung und Schutz der jüdischen Einrichtungen.

Herr Schuster, wir wollen eigentlich über Halle reden, über den Anschlag vor einem Jahr. Gerade wurde die Synagoge in Hamburg angegriffen, das kann doch kein Zufall sein, oder?

Josef Schuster: Ob das Zufall ist, wissen wir nicht, da der Täter offenbar stark geistig verwirrt wirkte. Dennoch erfüllt uns das natürlich mit Sorge, dass wieder an einem Feiertag, wenn Außenstehende davon ausgehen können, dass sich Menschen in der Synagoge aufhalten, ein Angriff erfolgt ist. Obwohl die Motivlage noch unklar ist, stufen wir den Angriff klar als antisemitisch ein.

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Was haben Sie aus Hamburg erfahren, hat die Polizei reagiert, was sagt der Angriff über die Gefährdungslage?

Schuster: Nach den Erkenntnissen der Hamburger Gemeinde hat die Polizei schnell eingegriffen und den Täter überwältigt. Die Straßen vor einer Gemeinde komplett und ständig für Passanten zu sperren, wäre sicherlich zu hoch gegriffen. Dennoch sollte der Vorfall genau analysiert werden, um gegebenenfalls Schwachstellen aufzudecken und zu beseitigen. Es bleibt eine traurige Tatsache, dass jüdische Einrichtungen einen hohen Schutz brauchen.

Der Angriff weckt Erinnerungen an den Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle. Wie haben Sie damals davon erfahren?

Schuster: Es war an Jom Kippur. Das ist der höchste jüdische Feiertag. Da bin ich, wie es Tradition ist, in die Synagoge in Würzburg gegangen. Ab 13 Uhr, zwischen den Gebeten, war eine Pause. Auf dem Weg nach Hause wurde ich informiert. Ich schaue zu Jom Kippur kein Fernsehen. An diesem Tag hatte ich leider Grund, vom Brauch abzurücken und die Nachrichten zu verfolgen.

Sie sind damals mit dem Bundespräsidenten nach Halle gefahren. Viele, vorneweg der Bundespräsident, haben Konsequenzen gefordert. Was ist daraus geworden?

Schuster: Bundesinnenminister Seehofer hat daraufhin gewirkt, dass die jüdischen Einrichtungen besser geschützt werden. Personell sofort, in der Folgezeit auch mit technischen Schutzmaßnahmen. Eine ganz andere Frage ist, wie man solche Taten besser verhindern kann.

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„Wir brauchen eine bessere Aufklärung und Bildung der Bevölkerung“, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden.
„Wir brauchen eine bessere Aufklärung und Bildung der Bevölkerung“, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. © dpa | Martin Schutt

Was ist Ihre Antwort?

Schuster: Wir brauchen eine bessere Aufklärung und Bildung der Bevölkerung. Es geht darum, das Judentum, jüdisches Leben bekannter zu machen – nicht immer im Zusammenhang mit der Schoa, nicht nur aus der Opferperspektive. Es geht darum, dass jüdisches Leben etwas Selbstverständliches sein sollte. 2021 begehen wird 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Das Judentum ist nichts Exotisches.

Mutmaßlicher Halle-Attentäter vor Gericht
Mutmaßlicher Halle-Attentäter vor Gericht

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    Die Synagoge in Halle war auch deshalb nicht besonders geschützt, weil bei der Polizei offenbar niemand an das Jom Kippur-Fest gedacht hat. Müsste jüdisches Leben in der Öffentlichkeit präsenter sein?

    Schuster: Es wäre schön. Ich hoffe, dass dies im kommenden Jahr besser gelingt. Die Öffentlichkeit ist das Eine, das Andere sind die Sicherheitsbehörden. Sollten denen Termine wie Jom Kippur nicht präsent sein, wirft das erhebliche Fragen auf.

    Sollten Synagogen überall und dauerhaft Polizeischutz haben?

    Schuster: Ich sehe im Moment keine andere Möglichkeit, das zeigt auch der jüngste Vorfall in Hamburg. Wenn Veranstaltungen oder Gottesdienste stattfinden, brauchen wir einen wirksamen entsprechenden Schutz, der so gestaltet sein muss, dass die Polizisten jederzeit einsatzbereit sind. Wenn in Halle vor der Synagoge eine Polizeistreife gestanden hätte, weiß ich nicht, ob der Attentäter es überhaupt versucht hätte.

    Wie ist der Sicherheitsstandard jüdischer Einrichtungen heute? Ist er überall gleich?

    Schuster: Er ist unterschiedlich. Das ist auch erklärbar. Es ist ein Unterschied, ob ich in einer Großgemeinde wie in Frankfurt, München oder Berlin bin oder in einer kleineren Gemeinde wie in Würzburg. Entscheidend ist, dass die technischen Schutzmaßnahmen etwa gleich sind. Personell sind größere Gemeinden sicher am besten ausgestattet.

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    2019 ist die Zahl der antisemitischen Straftaten um 13 Prozent gestiegen. Was vermuten Sie als Gründe dafür?

    Schuster: Mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden in der polizeilichen Kriminalstatistik dem Rechtsextremismus zugeordnet, nämlich auch dann immer, wenn ein Vorgang nicht aufgeklärt werden kann.. In Wahrheit könnten es auch islamistische Täter sein. Die Mehrheit ist allerdings dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen. Die Betroffenen sind auch sensibler geworden und eher bereit, Anzeige zu erstatten. Der Anteil der Menschen mit anti-jüdischen Ressentiments liegt seit Jahrzehnten bei 20 Prozent. Man traut sich inzwischen wieder das zu sagen, was man vorher „nur“ gedacht hat. Aus Worte werden Taten. Das haben wir in Halle, in Hanau und beim Lübcke-Mord gesehen.

    Ärgern Sie sich immer noch über eine Justiz, die bei antisemitischen Straftaten geradezu strafmildernde Gründe suche, wie Sie mal beklagt haben?

    Schuster: An dieser Einschätzung hat sich bislang nichts geändert. Warten wir mal weitere Urteile ab. Ich meine nicht Halle, da scheint mir die Beweissituation ziemlich klar zu sein.

    Noch mal: Ist es ihr Eindruck, dass Gerichte bei antisemitischen Straftaten zu lasch sind?

    Schuster: Bei den Entscheidungen der letzten Jahre: definitiv ja. Doch mit der Präzisierung des Strafgesetzbuches, wonach antisemitische Motive strafverschärfend wirken, haben wir einen wichtigen Schritt getan. Es gibt auch Bundesländer, zum Beispiel Berlin und Bayern, die Antisemitismus-Beauftragte bei den Generalstaatsanwaltschaften eingerichtet haben. Da geht es darum, die Richter und Staatsanwälte zum Thema Antisemitismus zu sensibilisieren.

    Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt hat zuletzt in Halle eine Rede gehalten. Da fiel ein Satz, der Juden befremdet hat: „Was letztes Jahr geschah, wäre nicht passiert, wenn es mehr Versöhnung gegeben hätte.“ Wir haben Sie den Satz von Reiner Haseloff aufgefasst?

    Schuster: Ich verstehe ihn überhaupt nicht. Das will ich klipp und klar sagen. Ich weiß nicht, wer sich im Vorfeld mit wem hätte versöhnen sollen, damit diese Tat verhindert worden wäre.