Berlin. Der Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung fordert eine stärkere Bekämpfung sexueller Gewalt. Strafverschärfung reiche nicht aus.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat am Freitag sein neues Positionspapier vorgelegt. Bei der Vorstellung in Berlin forderte er die Parteien auf, die Empfehlungen daraus in ihre Wahlprogramme einfließen zu lassen – und später in Koalitionsverträgen zu verankern. „Ob auf Bundes- oder Landesebene: Nahezu alle Ressorts, wie zum Beispiel Gesundheit, Soziales, Finanzen, Justiz oder Bildung, müssen endlich interdisziplinär zusammenarbeiten“, sagte Rörig. Das Thema könne nicht allein den Familienministerien überlassen werden.

Seit dem Missbrauchsskandal in der römisch-katholischen Kirche, der 2010 öffentlich wurde, haben Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland immer wieder für großes Aufsehen und Entsetzen gesorgt. Rörig reicht das jedoch nicht aus.

Die „Skandalisierung“ von Missbrauchsfällen wie in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster, hält der Missbrauchsbeauftragte allerdings für „trügerisch“. Oft entstehe so der Eindruck einer Einzigartigkeit der Vorkommnisse. Tatsächlich handele es sich bei sexueller Gewalt gegen Minderjährige aber um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen enormen Ausmaßes, sagte der Missbrauchsbeauftragte. „Das ist eine nationale Herausforderung von höchster Priorität“, so Rörig weiter.

Missbrauchsbeauftragter: Höhere Strafen allein helfen nicht

Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, stellte  sein Positionspapier 2020 vor und übte harte Kritik.
Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, stellte sein Positionspapier 2020 vor und übte harte Kritik. © Getty Images | Sean Gallup

Deshalb sei es wichtig, endlich eine dauerhafte politische Auseinandersetzung mit der Problematik zu gesetzlich festzulegen: Rörig schlug daher eine Berichtspflicht seines Amts gegenüber dem Bundestag, der Bundesregierung und dem Bundesrat, vergleichbar mit der des Datenschutzbeauftragten vor. In dem Bericht solle dann das Ausmaß der sexuellen Gewalt in Deutschland und der Stand der Prävention bewertet werden.

Es gehe eben nicht nur darum, Täter zu finden und härter zu bestrafen, sondern den Missbrauch von Kindern grundsätzlich zu verhindern: „Viel zu oft hatte ich in den letzten Monaten den Eindruck, als glaubten viele, dass sich der Kampf allein mit den Instrumenten des Strafrechts gewinnen ließe“, so Rörig.

Bundesländer sollen eigenen Missbrauchsbeauftragten einsetzen

Für ihn stehen daher besonders Aufklärung, Sensibilisierung und vorbeugende Maßnahmen wie die Umsetzung von Schutzkonzepten im Mittelpunkt. Geht es nach Rörig, sollen fünf Millionen Euro für eine breit angelegte Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne aus dem Bundeshaushalt fließen, die das Bundesfamilienministerium gemeinsam mit dem Missbrauchsbeauftragten in den Jahren 2021/22 umsetzen soll.

Rörig empfahl zudem den Bundesländern, einen eigenen ressortübergreifenden „Masterplan“ zur Verbesserung des Schutzes von Minderjährigen vor sexueller Gewalt und den Folgen zu entwickeln und umzusetzen. Auch solle es in jedem Bundesland das Amt eines eigenen Missbrauchsbeauftragten geben.

Diskussionen dürfte eine Äußerung des Missbrauchsbeauftragten vor allem bei Datenschützern auslösen: Rörig sagte bei der Vorstellung seines Positionspapiers, dass die mittlerweile gängige End-to-End-Verschlüsselung in Messenger-Diensten auch ihre Tücken habe und überdacht werden müsste. „Das mag uns unsere Privatsphäre sichern, schafft aber genauso sichere Kanäle für Täter und Täterinnen.“ Bei einer End-to-End-Verschlüsselung kann kein Dritter die Inhalte einer Nachricht lesen oder einsehen.

Sexueller Missbrauch von Kindern: Fallzahlen steigen an

Im Positionspapier heißt es dazu, dass die berechtigten Interessen des Datenschutzes und die ebenfalls berechtigten Interessen des Kinderschutzes „dringend neu ausbalanciert und neu justiert werden“ müssten. Noch im Jahr 2021 will Rörig zu diesem Zweck Daten- und Kinderschutz sowie Netzaktivisten und IT-Unternehmen an einen Tisch bringen.

2019 wurden den deutschen Ermittlungsbehörden über 13.000 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch gemeldet. Dazu kommen mehr als 1.000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Jugendlichen, über 12.000 Anzeigen wegen Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern und mehr als 3.000 Fälle des Cybergroomings. Die Zahl der Fälle nimmt seit Jahren nicht ab – vielmehr steigt sie in einigen Bereichen sogar stark an. Bei Kinderpornografie ist die Zahl der Fälle im Vergleich zum Vorjahr um 65 Prozent gestiegen.

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