Brüssel. Boris Johnson zündelt weiter. Dennoch gibt es plötzlich Zuversicht in den Brexit-Verhandlungen von EU und Briten. Wir erklären, warum.

Es sieht aus wie der perfekte Brexit-Sturm: Trotz aller Proteste aus Brüssel bereitet die britische Regierung weiter den Bruch des geltenden Brexit-Vertrags mit der Europäischen Union vor. Am Dienstagabend beschloss das britische Unterhaus jenes umstrittene Binnenmarktgesetz, das zentrale Vereinbarungen zwischen London und Brüssel über den künftigen Status von Nordirland wieder aufkündigen soll.

Eine Provokation: Denn am Mittwoch läuft ein Ultimatum der EU-Kommission aus – bis dahin sollte London das Binnenmarktgesetz zurückgezogen oder entschärft haben. Doch Premierminister Boris Johnson denkt nicht daran.

Und die EU? Statt die Verhandlungen über einen neuen Handelsvertrag abzubrechen und einen harten Bruch zu riskieren, bleibt die Union demonstrativ cool. „Gut möglich, dass Johnson auf einen Eklat zielte und uns den Schwarzen Peter zuschieben wollte – aber wir lassen uns nicht provozieren“, heißt es bei beteiligten Beamten der Kommission.

Zwar beklagt Brüssel nun weiter einen „Vertrauensbruch“ und behält sich eine Klage gegen das Vereinigte Königreich vor, dennoch begann am Dienstag wie geplant eine neue – die vorerst letzte – Verhandlungsrunde über ein Abkommen zu den künftigen Beziehungen. Überraschend trafen sich die Spitzenbeamten in vergleichsweise zuversichtlicher Stimmung, eine Wende zeichnet sich ab: Ein neues Handelsabkommen scheine doch noch möglich, heißt es nun von beiden Seiten.

Der britische Premierminister Boris Johnson an seinem Amtssitz in der Downing Street in London.
Der britische Premierminister Boris Johnson an seinem Amtssitz in der Downing Street in London. © Getty Images | Leon Neal

Brexit: Hinter den Kulissen gibt es Verhandlungsfortschritte

Denn während auf der Vorderbühne der Streit zu eskalieren drohte, sind hinter den Kulissen Fortschritte bei den großen Streitthemen erzielt worden: Es geht um die Standards für den Binnenmarktzugang, hier vor allem staatliche Beihilfen Großbritanniens für heimische Unternehmen, und um die Fischereiregelungen.

Auch Brüssel hat Zugeständnisse gemacht. So sollen die Briten später neue Sozial- und Umweltstandards der EU doch nicht einhalten müssen, wenn sie dafür auch Abstriche beim Zugang zum Binnenmarkt hinnehmen. Und auch bei den Fangrechten von EU-Fischern in der britischen Nordsee räumt die Union bisherige Maximalforderungen ab.

Was die Vorschriften für Subventionen angeht, bleibt Brüssel allerdings bislang hart, hier verläuft die zentrale Kampflinie. Die EU will verhindern, dass britische Unternehmen durch üppige Staatshilfen einen Wettbewerbsvorteil im Binnenmarkt bekommen. Die britischen Unterhändler blieben am Dienstag auch mit einem neuen Kompromissvorschlag erfolglos. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigt sich dennoch optimistisch: „Wir wollen ein Abkommen und ich bin immer noch überzeugt, dass ein Abkommen möglich ist.“

Manche Beobachter fürchten schon, dass die EU am Ende unter Einigungsdruck zu viel opfern könnte: „Wir dürfen uns von der britischen Regierung nicht erpressen lassen“, warnt die europapolitische Sprecherin der Bundestags-Grünen, Franziska Brantner. „Ich bin in Sorge, dass wir ein schlechtes Ergebnis bekommen, weil die EU zu viele Zugeständnisse macht.“

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Zieht Johnson die Vertragsbruch-Pläne noch zurück?

Wenn es bis Freitag zu substanziellen Fortschritten kommen sollte, wollen die Experten in intensiven Gesprächen im „Tunnel“ den Feinschliff am Vertragstext angehen. Dass bis zum Gipfel der EU-Regierungschefs Mitte Oktober schon das Ergebnis vorliegt, wie es Johnson gefordert hatte, hält EU-Chefunterhändler Michel Barnier zwar für unwahrscheinlich, bis Ende Oktober will aber auch Brüssel fertig sein.

Das letzte Wort ist das nicht: Selbst wenn am Ende nach einer Einigung die Ratifizierung des Abkommens nicht ganz pünktlich bis zum Ende der Übergangszeit zur Jahreswende gelinge, sei dies kein Beinbruch, heißt es bei EU-Diplomaten.

Und der Vertragsbruch? Das am Dienstag beschlossene Binnenmarktgesetz hat zum Ziel, Teil des Anfang des Jahres beschlossenen Brexit-Vertrags wieder auszuhebeln: Die vereinbarten Sonderregeln für Nordirland, die eine feste Grenze zum EU-Mitglied Irland verhindern sollen, würde die britische Seite mindestens aufweichen. In der optimistischen Variante würde Johnson dieses Gesetz aber gar nicht in Kraft treten lassen, sofern es zu einer Verständigung mit der EU kommt. Nach dem Unterhaus muss ja noch das Oberhaus zustimmen, und das soll sich den Plänen des Premiers zufolge sehr, sehr viel Zeit lassen mit den Beratungen.

Rechtzeitig vor der Ratifizierung des geplanten Handelsvertrags könnte das Gesetz zurückgezogen, der Konflikt abgeräumt werden. Womit einer Forderung der EU-Seite genüge getan wäre. Das EU-Parlament hatte damit gedroht, das geplante Abkommen nicht zu ratifizieren, wenn das Binnenmarktgesetz unverändert in Kraft gesetzt werde.

Brexit: Die Wirtschaft warnt: „Schlafwandeln in den Abgrund"

Der Chef des Brexit-Komitees im EU-Parlament, David McAllister (CDU), bekräftigte am Dienstag: „Wir haben nach der Präsentation dieses Gesetzentwurfes fraktionsübergreifend gesagt, dass wir, wenn es eine Bedrohung oder die Ankündigung einer Bedrohung des Austrittsabkommens gibt, inklusive der Regelung zu Nordirland, dann nicht bereit wären, ein Abkommen mit dem Vereinigten Königreich zu ratifizieren."

Auch wenn die Aussichten, dass alles gut geht und es doch noch zu einer Einigung kommt, besser werden – darauf wetten will in Brüssel niemand. Ob Johnson wirklich einen Vertrag will oder es doch auf einen No-Deal anlegt, bleibt ungewiss. Der von ihm vorbereitete Vertragsbruch hat viel Vertrauen gekostet.

Die Wirtschaft bleibt deshalb hoch nervös: Das weiter drohende No-Deal-Szenario hätte „verheerende Folgen für Unternehmen, die schon jetzt mit den Auswirkungen von Covid-19 kämpfen“, warnte zum Auftakt der neuen Verhandlungsrunde der europäische Wirtschaftsverband Business. „Wir schlafwandeln in den Abgrund.“