Berlin. Die große Koalition berät über die Aufnahme weiterer Migranten aus dem abgebrannten Flüchtlingscamp Moria. Die SPD erhöht den Druck.
Es ist der Tag Sechs nach dem verheerenden Großbrand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Immer noch schlafen Tausende Menschen unter freiem Himmel oder irren mit ihren Kindern über die Insel. 12.000 Flüchtlinge sind betroffen und der Streit um ihre Zukunft hat die deutsche Innenpolitik mit Wucht erreicht.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) gerät bei seinem eigenen Parteichef Markus Söder unter Druck, SPD-Chefin Saskia Esken droht mit der Einberufung des Koalitionsausschusses und auch die Kanzlerin schaltet sich ein. Alles dreht sich um die Frage: Wie viele Flüchtlinge soll Deutschland aufnehmen? Spätestens Mitte der Woche will die Bundesregierung entscheiden. Darum geht es:
Wie viele Migranten werden nach Deutschland gebracht?
Seehofer hat vergangene Woche zugesagt, die Bundesrepublik werde 100 bis 150 unbegleitete Minderjährige aufnehmen. Frankreich will Menschen in ähnlicher Größenordnung bei sich unterbringen. Außerdem will Deutschland in einem zweiten Schritt mit Athen über die Aufnahme von Familien mit Kindern sprechen.
Insgesamt haben sich bislang zehn EU-Staaten sowie die Schweiz verpflichtet, eine Gesamtzahl von 400 Minderjährigen aufzunehmen. Derzeit befinden sich rund 12.000 Migranten auf Lesbos. Vor diesem Hintergrund werden vermehrt Forderungen laut, deutlich mehr Menschen nach Deutschland zu holen.
Merkel zu Zahlen – Welche Größenordnung ist im Gespräch?
Konkrete Zahlen hierzu gibt es bislang nicht. Deutschland könne „sicherlich einen substanziellen Beitrag leisten“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag in Berlin. Es könne die Migrationsfrage in Europa aber nicht alleine lösen. Deshalb habe es „keinen Sinn, jetzt nur über eine Zahl zu sprechen“. Es müsse ein Gesamtkonzept für die Frage auf europäischer Ebene geben.
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Druck zur Aufnahme von mehr Menschen aus Lesbos macht besonders der Regierungspartner SPD. Die Sozialdemokraten fordern eine bundesweite Initiative. „Wir wollen, dass Deutschland durch ein Aufnahmeprogramm des Bundes einem maßgeblichen Anteil dieser geflüchteten Menschen schnell, organisiert und kontrolliert Aufnahme, Schutz und Perspektive bietet“, heißt es in einer am Montag beschlossenen Resolution des SPD-Parteivorstands.
Weiter heißt es: „Allein 400 unbegleitete Kinder auf mehrere EU-Staaten zu verteilen und davon 150 nach Deutschland zu bringen, ist völlig ungenügend.“ SPD-Chefin Saskia Esken hatte am Sonntag verlangt, es müsse „ein hoher vierstelliger Betrag“ sein, ohne sich aber auf eine konkrete Zahl festzulegen.
Auch Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder hat sich dafür ausgesprochen, deutlich mehr Geflüchtete aus dem abgebrannten Lager Moria aufzunehmen als von Seehofer angekündigt. „Es ist auch aus meiner Sicht eine persönliche Christenpflicht, in einer solchen Not zu helfen“, sagte Söder im „Bild“-Talk. Es sei für Deutschland „ohne Probleme machbar“, mehr Menschen aufzunehmen.
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Welche Bedenken haben Seehofer und die griechische Regierung?
Seehofer und auch die griechische Regierung haben die Befürchtung, dass eine Aufnahme von vielen Moria-Flüchtlingen Anreize schafft für noch mehr Migranten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Zudem glaubt Athen, dass Vorfälle wie auf Lesbos bald auch in Aufnahmezentren auf den Inseln Chios, Samos, Leros und Kos folgen könnten, wie der Asylbeauftragte des Migrationsministeriums, Manos Logothetis, der griechischen Tageszeitung „Kathimerini“ sagte.
Daneben will Seehofer vermeiden, dass andere europäische Staaten sich in der Asylfrage zurücklehnen und die Flüchtlingspolitik in Europa als Angelegenheit der deutschen Innenpolitik betrachten. Dadurch bestünde die Gefahr, dass eine europäische Lösung in weite Ferne rückt.
Merkel: Welche Schritte plant sie als nächstes?
Merkel will eine Entscheidung bis zur Sitzung des Bundeskabinetts an diesem Mittwoch. Sie sei dazu in Abstimmungen mit Seehofer, sagte die Kanzlerin nach Angaben von Teilnehmern in der CDU-Präsidiumssitzung. Die Bundesregierung strebe weiterhin eine europäische Lösung an.
Merkel plant nach diesen Angaben auch ein Treffen mit Bürgermeistern aus Deutschland, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten einsetzen. Mehrere Teilnehmer der CDU-Sitzung hätten erklärt, einige Städte und Landkreise wollten Migranten aufnehmen, allerdings fänden Bürgermeister dann aber keine Unterkünfte für Asylbewerber.
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Aufnahme von Flüchtlingen: Welche Kommunen haben sich angeboten?
Nach Angaben des Bündnisses „Seebrücke“ haben sich mittlerweile mehr als 190 Städte und Gemeinden in Deutschland zu „sicheren Häfen“ für Flüchtlinge auch aus Moria erklärt, wie eine Sprecherin des Bündnisses unserer Redaktion sagte. Bereits am Freitag hatten sich die Oberbürgermeister zehn großer deutscher Kommunen bereit erklärt, Flüchtlinge aus Moria bei sich aufzunehmen.
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Welche Kritik haben die Landkreise?
Der Deutsche Landkreistag kritisiert entsprechende Ankündigungen von Städten und Kommunen. „Derartige Alleingänge sind nicht hilfreich und sollte es nicht geben“, sagte Verbandspräsident Reinhard Sager unserer Redaktion.
Die Flüchtlingsaufnahme liege rechtlich in der Verantwortlichkeit des Bundes und sei „gerade keine Frage, die auf kommunaler Ebene entschieden werden kann. Daher schwächt es die Position unseres Landes nach außen, wenn einige wenige deutsche Städte vorbei am gesetzlichen Rahmen einzelne Personen aufnehmen wollen“, kritisierte Sager.
Zugleich stellte er aber klar: Die Aufnahme auch von mehr als 150 Flüchtlingen aus dem griechischen Lager Moria werde Deutschland „sicherlich nicht überfordern“, weder Länder noch Kommunen.
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Was fordern die Vereinten Nationen?
Das UN-Flüchtlingshilfswerk ruft Deutschland und die EU zu raschen Lösungen auf. Die gegenwärtigen Zustände auf Lesbos seien „eine humanitäre Notlage, die ein schnelles und unverzügliches Handeln der europäischen Staaten gemeinsam mit Griechenland erfordern“, sagte der Vertreter des UNHCR in Deutschland, Frank Remus, unserer Redaktion. Die Länder Europas hätten jetzt „die Pflicht, den Menschen auf Lesbos sofort zu helfen und langfristig die Chance zu nutzen, gesamteuropäische Lösungen zu finden“.