Brüssel. In der Flüchtlingspolitik herrscht weiterhin Stillstand – trotz der Brandkatastrophe von Moria. Das ist unerträglich. Ein Kommentar.
Versagt Europa jetzt ein weiteres Mal? Tausende Flüchtlinge irren auf der griechischen Insel Lesbos herum, nachdem dort das heillos überfüllte Lager Moria in Flammen aufgegangen ist. Ihnen fehlt fast alles, viele sind obdachlos, sogar Essen und Wasser werden knapp.
Und was tut Europa? Es zeigt sich wie immer betroffen, unterlässt aber, was jetzt so naheliegend wie dringend notwendig wäre: Erst eine entschlossene Katastrophenhilfe zur Erstversorgung, und dann muss die Europäische Union die Flüchtlinge in einer großen humanitären Aktion schnell von der Insel holen und in anderen Mitgliedstaaten unterbringen. Aber dazu reicht die Betroffenheit dann offenbar doch nicht aus.
Entscheidung des Innenministers ist unverständlich
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat am Freitag lediglich die Evakuierung von 400 unbegleiteten Kindern und Jugendlichen in andere Staaten der Europäischen Union angekündigt, davon bis zu 150 nach Deutschland. 400 von 12.000 Flüchtlingen, die auf Lesbos in größter Not sind! Und auch das nur nach einigem Zögern.
Das ist ein Armutszeugnis für Europa. Angesichts der Notlage auf Lesbos – und der katastrophalen Situation auch in anderen Flüchtlingslagern – ist diese Geste geradezu lächerlich. Und sie ist, was den deutschen Anteil anbelangt, besonders unverständlich, weil eine Reihe von Bundesländern und viele Städte bereits angeboten haben, insgesamt Tausende der Moria-Flüchtlinge aufzunehmen.
Aber Horst Seehofer verweigert für solche Angebote schon seit Monaten die notwendige Zustimmung. Und er tut es sogar jetzt, im Angesicht der Brandkatastrophe. Ein fatales Signal, zumal Deutschland mit der laufenden EU-Ratspräsidentschaft in besonderer Verantwortung steht.
Alte Reflexe sorgen seit Jahren für Stillstand
Sicher, der Bundesinnenminister fürchtet, dass sich jetzt das Asylmikado der EU-Staaten wiederholt: Wer sich zuerst bewegt und großzügig Hilfe anbietet, hat verloren – andere EU-Staaten könnten sich dann hinter dieser Solidaritätsaktion verstecken und eigene Beiträge verweigern. Das aber sind die alten Reflexe, die seit Jahren für den Stillstand in der Flüchtlingspolitik sorgen.
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Nach der Katastrophe auf Lesbos ist doch unbestritten, dass die Asylpolitik der Europäischen Union so nicht weitergehen kann. Sie ist gescheitert, Moria ist der letzte Beweis dafür. Sind die Flüchtlinge dort versorgt, muss die EU-Politik dringend die seit fünf Jahren vertagte Reform in Angriff nehmen.
Ein besserer Außengrenzschutz, auf den man sich schnell verständigen mag, wird nicht reichen: Flüchtlinge mit oder ohne Asylanspruch werden auch künftig kommen. Entscheidend wird sein, dass die EU-Staaten die besonders belasteten Länder am Mittelmeer nicht länger im Stich lassen.
Wenn Länder keine Flüchtlinge wollen, müssen sie sich anders engagieren
Nur: Der von Deutschland jahrelang vorangetriebene Ansatz, alle Länder der Europäischen Union zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen, ist nicht durchsetzbar. Er hat die Reform bislang blockiert. Stattdessen sollten in einem neuen europäischen Asylsystem unterschiedliche Formen einer verpflichtenden, aber flexiblen Solidarität zugelassen sein.
Wenn etwa Ungarn partout keine Flüchtlinge aufnehmen will, müsste es sich auf andere Weise verbindlich und umfassend engagieren, nicht nur finanziell. Wie das funktionieren kann, darüber muss jetzt in der Europäischen Union gestritten werden. Aber es wäre fatal, wenn dieser Streit auf dem Rücken d er obdachlosen Flüchtlinge von Moria ausgetragen wird.
Für politisches Kräftemessen ist nicht die Zeit. Auch wenn nicht alle Länder mitmachen: Europa, das so stolz ist auf seine Werte, muss den Menschen in Not helfen – so umfassend und schnell wie möglich.