Lesbos. Nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria kämpfen Freiwillige gegen die Not auf Lesbos. Doch auch sie stoßen immer wieder an Grenzen.
Plötzlich ist Kai Wittstock umzingelt. Menschen drängen an ihn ran, halten ihre Ausweise in der Hand, strecken ihm die Asylpapiere entgegen. Mütter mit Kindern auf dem Arm, junge Männer, Frauen mit Kopftüchern. „Please! Help!“, sagten sie ihm. Er solle sie mitnehmen, weg von hier, nach Deutschland. „Hol mich hier raus!“, haben sie ihn angefleht. Kai Wittstock will dann erst mal nur noch weg. Abstand. Raus aus der Masse. Momente wie diese können schnell außer Kontrolle geraten.
Jetzt läuft er über den Parkplatz eines Supermarkts nahe der Küste der griechischen Insel Lesbos. Hier, wo seit Tagen Flüchtlinge auf der Straße schlafen, unter Planen, auf Decken unter Olivenbäumen, im Schatten von Lagerhallen.
Und eben hier, auf dem fußballfeldgroßen Parkplatz des Supermarktes. Hunderte Afghanen, Syrer, Somalier liegen auf dem Asphalt. Mit Plastiktüten, Wasserflaschen, Decken. „Die Menschen klammern sich an jeden Strohhalm – aus Verzweiflung“, sagt Wittstock.
Die Bilder aus dem Flüchtlingscamp Moria
Brand in Flüchtlingslager Moria: Mehrere Feuer wurden offenbar gelegt
Kai Wittstock, Ende 50, groß, schlank, ist an diesem Tag auf Lesbos immer wieder ein winziger Strohhalm in dem Chaos. Vor allem weil er Deutscher ist. Und nach Deutschland wollen viele der Geflüchteten auf Lesbos, manche von ihnen leben seit über einem Jahr auf Hügeln im Sand und Dreck.
Aber Wittstock muss immer wieder sagen, dass er nichts tun könne. Er sei keine Asylbehörde, kein Polizist. Er ist Flüchtlingshelfer. „Ich versuche in dem Moment, diese Not zu verdrängen. Ich fühle mich dann auch immer ein wenig hilflos.“
Es ist Freitagmittag, knapp drei Tage ist es her, dass Europas größtes Flüchtlingslager nahe dem Dorf Moria auf Lesbos abgebrannt ist. Mehrere Feuer wurden offenbar gelegt. Fast das ganze Lager ist eine Aschewüste, einst gebaut für gut 3000 Geflüchtete. Zuletzt mussten hier rund 14.000 ausharren.
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In den Tagen nach dem Brand regiert vor allem eines: Hilflosigkeit. Bei den griechischen Behörden, von denen man vor Ort vor allem die Polizei sieht, die die Straßen kontrolliert. Bei den EU-Regierungen, die auch nach Jahren keine Lösung für die Tausenden Flüchtlinge finden. Hilflos sind vor allem die Menschen, deren Flucht jetzt in einer Sackgasse unter einer Plane auf einem Parkplatz endet.
Flüchtlinge auf Lesbos: Niemand weiß, wie es weitergeht
Nirgends sind Toiletten zu sehen, keine Duschen. Und die Menschen klagen auch am dritten Tag nach dem Feuer darüber, dass ihnen Essen fehlt. Aber auch Milchpulver und Windeln für die vielen Kinder.
Und hilflos sind auch die Helfer. Die Organisationen müssen sich selbst erst einmal versorgen, sortieren, ihre Arbeit neu aufstellen. Niemand weiß, wie es weitergeht. Und wo sie hinsollen. „Ich habe meinem Team gesagt, sie sollen einfach losgehen. Dort, wo Hilfe gebraucht wird, sollen sie helfen. Und wenn eine Chirurgin Tomaten schneidet, dann ist das gut so.“
Wittstock ist Teamkoordinator bei der Organisation Medical Volunteers International. Im Moment sind mehrere Ärztinnen und Krankenpfleger mit ihm vor Ort, die freiwillig hierhergereist sind, um zu helfen. Auch zwei Medizinstudenten sind dabei.
Sie kommen aus Deutschland, aber auch aus England und Schweden. Morgen, erklärt Wittstock, käme eine Ärztin aus der Quarantäne, zu der sich viele Organisationen verpflichtet haben. Dass Helfer das Coronavirus in das Flüchtlingscamp einschleppen – es wäre eine fatale Nachricht.
Moria: Wütende Anwohner bedrohen die Helfer
Das Lager Moria gibt es nicht mehr. Aber es gibt auch keine neue Ordnung. Flüchtlinge ziehen jetzt in kleinen Gruppen über die Straßen der Insel, schleifen Karren, Müllcontainer oder Säcke mit ihrer Kleidung, Wasserflaschen und Decken über den Asphalt, suchen nach einem Platz für die Nacht. Wie die Geflüchteten ziehen auch die Helfenden umher.
Die junge Jaëla aus Berlin springt auf die Rückbank ihres silbernen Fiats. Sie schmeißt ein paar Packungen Kekse nach vorne auf den Sitz, ein paar Flaschen Wasser. Eine Freundin auf dem Beifahrersitz reicht Kekse und Wasser durch das Fenster. Um das kleine Auto auf der Straße nahe dem Supermarkt drängen sofort ein Dutzend junge Männer. Auch Jaëla und ihre Kekse sind ein Strohhalm.
Sie hilft auf eigene Faust. Jaëla berichtet, dass die Polizei sie deshalb oftmals nicht mit Essen für die Flüchtlinge durch die Straßenkontrolle lasse. Sie erzählt, dass auch wütende Anwohner die Straßen blockieren und Helfer bedrohen. Mehrfach kam es nach Schilderungen von Flüchtlingsorganisationen und auch von Journalisten zu Gewalt durch rechte Ausländerhasser.
Die Arbeit lenkt die Flüchtlinge ab
Dort, wo einst das überfüllte Lager und die Zelt-Slums standen, hatten die Helfer ihre Infrastruktur errichtet. Krankenhäuser aus Holzhütten, Generatoren sorgten für Strom, Betten und Medikamentenvorräte lagerten in Schränken. Doch vieles ist verbrannt. Manches steht im alten Camp noch – doch die Flüchtlinge sind nun nicht mehr da.
Zahra kommt aus Afghanistan. Sie ist gerade 18 Jahre alt, hat dunkle, glatte Haare. Seit einem Jahr harrt sie mit ihrer Familie auf der griechischen Insel aus. Und seit einem Jahr verteilt sie Essen, trägt Vorräte in die Lager, kocht.
Sie trägt eine neongelbe Weste, eine Maske und einen Schirm aus Plastik vor ihrem Gesicht, was sie gegen Corona schützen soll. Mit anderen Afghanen und Irakern trägt sie Kisten mit Bananen, Konservendosen und Wasser auf die Hügel von Lesbos. Hier, einige Hundert Meter vom abgebrannten Camp entfernt, harren noch immer Hunderte Flüchtlinge aus, schlafen unter Olivenbäumen.
Zahra stapft über das Feld. Eigentlich habe sie jetzt keine Zeit für ein Interview. Zu viel zu tun. Die dänische Organisation Team Humanity hat ganz in der Nähe eine Halle gemietet. Gerade kam eine neue Ladung mit Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln. Jetzt wollen sie kochen. In der Not auf Lesbos helfen Flüchtlinge anderen Flüchtlingen. „Es macht mir Spaß“, sagt Zahra. Und die Arbeit helfe, die schlimmen Gedanken zu verdrängen.