Berlin. Der Giftanschlag auf den Putin-Gegner Alexej Nawalny ist ein Zivilisationsbruch. Der Kreml will seine Macht erhalten – um jeden Preis.
Hinter den Reaktionen aus Moskau stecken die alten Reflexe: Nebelkerzen werfen, Zweifel säen, ausländische Verschwörungen an die Wand malen. Die Giftgasattacke auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist demnach kein Anschlag, sondern eine Unterstellung.
Die russische Regierung samt ihrer nachrichtendienstlichen und militärischen Trabanten stellt sich nicht als Täter dar, sondern als Opfer. Nicht der Kreml muss aufklären, sondern die Bundesregierung. Das Labor der Bundeswehr, das das Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe „zweifelsfrei“ identifiziert hat, steht auf einmal am Pranger. Der Spieß zur Aufklärungspflicht wird einfach umgedreht.
Der Einsatz von chemischen Waffen gegen Oppositionelle, die einen langen und qualvollen Tod sterben können, ist ein Zivilisationsbruch. Eine Mischung aus Grausamkeit, Menschenverachtung und diktatorischen Macht-Mechanismen.
Fall Nawalny: Symbolische Aktionen der Bundesregierung reichen nicht
Die Bundesregierung kann es nicht bei reiner Empörung bewenden lassen. Sollte Russland keine schnelle und umfassende Aufklärung liefern, muss Kanzlerin Angela Merkel im Verbund mit der EU ein starkes Signal setzen. Symbolische Aktionen reichen nicht. Wirtschaftssanktionen sind immer ein zweischneidiges Schwert, weil sie auch eigene Unternehmen treffen.
Doch im Fall Nawalny darf es kein Tabu geben. Auch ein Abbruch des Pipeline-Projekts Nordstream 2 – für Russlands Präsident Wladimir Putin ein Prestige-Vorhaben – sollte zum Instrumentenkasten gehören. Es stößt ohnehin nicht nur bei den Osteuropäern, sondern auch in Frankreich auf Skepsis.
Ob Putin den direkten Befehl zum Giftgaseinsatz gegeben hat oder nicht, ist zweitrangig. Zumindest kann von einer Mitwisserschaft ausgegangen werden – alles andere wäre abwegig. Fest steht: Das System Putin war und ist in der Lage, derlei brutale Taten zu begehen.
• Kommentar: Fall Nawalny: Empörung reicht nicht mehr
Dissident Nawalny ist Putins gefährlichster Widersacher
Der ehemalige KGB-Offizier Putin vertraut sehr stark seinen Geheimdiensten. „Die Dienste müssen immer wieder zeigen, was sie können“, sagte kürzlich ein westlicher Diplomat in Moskau. Es gehe um maximale Einschüchterung und die Ausschaltung von politischen Gegnern.
Nach Einschätzung von Beobachtern in Moskau, die die russischen Verhältnisse sehr gut kennen, ist Ende 2019 eine Grundsatzentscheidung im Kreml gefallen. Erstes Ziel sei der Machterhalt um jeden Preis.
Mögliche Alternativen wie eine Politik der Öffnung mit Initiativen zur Klimapolitik, einer Innovations- und Bildungsoffensive seien verworfen worden. Mit der Verfassungsreform, die Putin die Macht bis 2036 sichert, hat der Präsident seine Ein-Mann-Herrschaft in Beton gegossen.
Der Dissident Nawalny ist Putins gefährlichster Widersacher. Er organisierte Proteste in den Regionen. In Chabarowsk im Fernen Osten gehen die Menschen seit dem 11. Juli auf die Straße – zuvor war der populäre Gouverneur Sergej Furgal unter dubiosen Vorwürfen inhaftiert wurden. Zum Teil richten sich die Kundgebungen offen gegen den Präsidenten.
Noch nie waren Putins Popularitätswerte so niedrig wie heute
Zudem hatte Nawalny für die Regionalwahlen in Russland am 13. September die Parole des „klugen Wählens“ ausgegeben. Die Opposition soll sich demnach hinter einen vom Kreml zugelassenen Kandidaten scharen, um die Putin-Partei Vereinigtes Russland zu schwächen.
Hinzu kommt, dass der Präsident keine positive Bilanz vorweisen kann. Schlechte Aussichten nach sechs Jahren sinkender Löhne machen Hoffnungen der Bevölkerung auf Fortschritt zunichte. Noch nie waren Putins Popularitätswerte so niedrig wie heute.
Der Kremlchef hat kein Konzept, wie die die Wirtschaft der Öl- und Gasgroßmacht Russland diversifiziert und modernisiert werden könnte. Er verschanzt sich hinter einer Wagenburg, die von der Zementierung seiner Macht, Drohung gegen Andersdenkende und der Verbreitung von Angst geprägt wird.
Nawalny war fasziniert von den Widerständlern in Belarus, an denen sämtliche Drohungen Lukaschenkos abprallten. Die dortige Zivilgesellschaft hatte die Angst abgeschüttelt. Für alle Autokraten dieser Welt bedeutet dies Alarmstufe Rot. Passierte dies in Russland auf breiter Front, würde die Autorität des Kremlchefs brüchig.
Putin fürchtet, dass der Funke aus Belarus auf sein Land überspringen könnte
Vor diesem Hintergrund unterstützt Putin Lukaschenkos Politik der eisernen Faust. Er hält Sicherheitskräfte seines Innenministeriums als Interventions-Reserve in Stellung, sollte die Lage im Nachbarland eskalieren. Der Kremlchef sieht sich als Hüter des Status quo. Er setzt nach außen auf Intervention und Einmischung.
Doch Putin wird nicht nur von der Sorge getrieben, dass im Vorgarten seines Riesenreiches ein Demokratie-Labor mit Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit entstehen könnte. Der russische Präsident fürchtet vielmehr, dass der Belarus-Funke auf sein Land überspringen könnte.
Putin ist ein postsowjetischer Politiker mit sowjetischen Reflexen. Die Weiterexistenz des Systems und der Ausbau von Einflusssphären gehen ihm über alles. Im Grunde handelt es sich um eine Breschnew-Doktrin 4.0. So wie der damalige KPdSU-Generalsekretär im August 1968 den Prager Frühling mit Panzern niederwalzen ließ, beansprucht Putin heute das Recht auf Militär-Intervention.
Damals ging es um die „beschränkte Souveränität“ der Warschauer-Pakt-Staaten, sollte der Sozialismus bedroht sein. Unter Putin steht die Zementierung verbündeter Regime an erster Stelle.
Der Präsident schmetterte alle Vorstöße westlicher Staaten ab, den syrischen Machthaber Baschar al-Assad auf einen Dialog mit der Opposition zu verpflichten. Die Forderungen nach einem Reformprozess wurden mit einem schroffen „Njet“ beantwortet. Mit der gleichen Härte wird er versuchen, Lukaschenko im Amt und innenpolitische Gegner vom Leib zu halten.