Berlin. Wenn Europa seinen Umgang mit Russland nicht verändert, wird der Kampf um mehr Demokratie im Reich Putins lebensgefährlich bleiben.

Also doch. Der bekannteste Kritiker des Kreml ist offensichtlich vergiftet worden. Nur durch schnelles Eingreifen seiner engsten Unterstützer ist er noch am Leben. Es ist ein Glücksfall, dass mutige und solvente Helfer bereitstanden und Alexej Nawalny schnell in beste medizinische Hände bringen konnten. Was der Attentäter nicht schaffte, hätten vielleicht noch inkompetente oder von der Staatsmacht eingeschüchterte Ärzte durch falsche Behandlung zu Ende gebracht.

Die brutale Attacke auf den zweifachen Familienvater reiht sich ein in eine traurige Serie von Gewalt gegen populäre Oppositionspolitiker in Russland. Der Fall zeigt auf tragische Weise, wie weit das Land von einem demokratischen Staat entfernt ist und wie sehr physische Gewalt Teil der russischen Realpolitik ist.

Weder in Russland noch außerhalb des Landes sind Gegner des Systems sicher. Das erlebt Deutschland zurzeit in Nahaufnahme in der eigenen Hauptstadt. Während in Berlin Ärzte der Charité um das Leben Nawalnys ringen, versuchen deutsche Ermittler des Staatsschutzes nur wenige Kilometer entfernt nachzuweisen, dass der Mord an einem Georgier unweit des Kanzleramtes russischer Staats-Terrorismus war.

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Die Liste der getöteten russischen Oppositionellen ist erschreckend lang

Noch ist nichts bewiesen, aber die ersten russischen Diplomaten wurden schon ausgewiesen. Auch der Tod von Boris Nemzow ist noch nicht geklärt. Er starb, von Kugeln getroffen, in direkter Nähe des Moskauer Kreml. Nicht mal an den Mauern der Staatsmacht kann Russland Sicherheit für andersdenkende Bürger gewährleisten.

Jörg Quoos, Chefredakteur unserer Zentralredaktion in Berlin, kommentiert den mutmaßlichen Giftanschlag auf Alexej Nawalny.
Jörg Quoos, Chefredakteur unserer Zentralredaktion in Berlin, kommentiert den mutmaßlichen Giftanschlag auf Alexej Nawalny. © Dirk Bruniecki

Die Liste der getöteten Oppositionellen ist schon erschreckend lang. Und dennoch darf man es sich nicht zu leicht mit schnellen Schuldzuweisungen machen. In einem Land wie Russland setzt nicht nur die Führung auf Gewalt.

Das Spiel von Agenten, Doppelagenten, Provokateuren und Spitzeln ist undurchsichtig. Und die Interessenkonflikte von Putins Getreuen, Geheimdiensten, milliardenschweren Oligarchen und Großkriminellen sind komplex. Sie verlaufen nach eigenen Gesetzen, die aus dem Ausland nur schwer zu durchschauen sind. Daher ist weitere Aufklärung zwingend nötig, und die Bundesregierung muss diese noch klarer als bisher einfordern.

In jedem Fall ist festzustellen, dass unter Präsident Putin Oppositionelle nicht sicher sind. Das ist schlimm genug. Sie riskieren ständig, ihren politischen Kampf für mehr Demokratie in Russland mit dem Leben zu bezahlen. Es ist die dunkle Seite des ehemaligen KGB-Agenten und „lupenreinen Demokraten“ Putin, der es geschafft hat, sogar einen deutschen Altbundeskanzler für sich und seine Interessen einzuspannen.

Deutschland und Europa sind zu ängstlich im Umgang mit Russland

Für eine friedliche, verfassungsfeste Demokratie wie Deutschland ist es schwer, auf rohe physische Gewalt – egal ob gegen Einzelne oder ganze Völker – zu reagieren. Diplomatische Noten, ein paar ausgewiesene Botschaftsmitarbeiter und Appelle erleichtern bestenfalls das eigene Gewissen. Aber niemals die Situation der mit dem Tode bedrohten Opposition.

Nur härteste Boykotte, Ausreiseverbote und gezielte Schläge gegen russisches Auslandsvermögen könnten Wirkung zeigen. Aber die Politik – in Deutschland wie in Europa – ist zu ängstlich im Umgang mit Russland. Aus Sorge um die Wirtschaft. Aus Sorge um militärische Eskalation. Aus Sorge vor einer Rückkehr zum Kalten Krieg.

Wegen eines vergifteten Oppositionellen will sich niemand ernsthafte Nachteile einhandeln oder strategische Ziele gefährden. Daher wird der Fall des mutigen Alexej Nawalny, der wie im Mittelalter durch einen Gifttrunk sterben sollte, leider nicht der letzte sein.