Warschau/Berlin. Nawalny legt den Finger in die Wunde des Regimes in Moskau. Bei seiner Vergiftung gilt aber die Unschuldsvermutung sagt Ulrich Krökel.
In der Mathematik ergibt zwei plus zwei immer vier. In der Politik sind die Dinge weniger zwingend, auch wenn sie noch so offensichtlich zu sein scheinen. Zum Beispiel im Fall Alexej Nawalny.
Als am Donnerstag die Nachricht von der akut lebensbedrohlichen Erkrankung des Kremlkritikers die Runde machte, deutete alles auf eine Rechnung nach dem Muster zwei plus zwei hin. Heraus kam vier: ein Mordanschlag auf den schärfsten Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Zuvor immer eine Spur in den Kreml
Auch alle weiteren Additionen wirkten simpel. Viel zu nah lag ein Attentat im Auftrag oder sogar mit Wissen höchster Kreise in Moskau. Schließlich gab es in all den ähnlich gelagerten Fällen zuvor immer irgendeine Spur, die in den Kreml führte oder zu den Geheimdiensten FSB und GRU.
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Man denke an die Giftanschläge auf die Ex-Agenten Alexander Litwinenko (2006) und Sergej Skripal (2018) in England. Oder an die Morde an der regimekritischen Reporterin Anna Politkowskaja (2006) und Oppositionspolitiker Boris Nemzow (2015). Zuletzt tötete 2019 ein Auftragskiller im Berliner Tiergarten einen Georgier, den Putin anschließend als Banditen bezeichnete, so wie er Litwinenko und Skripal für Verräter hielt.
Nicht nur juristisch gilt die Unschuldsvermutung
Die Liste ließe sich eine Weile fortsetzen. Und dennoch: Nicht nur juristisch gilt die Unschuldsvermutung. Mit politischen Urteilen muss man sich zwar nicht ganz so bedingungslos zurückhalten. Aber wildes Spekulieren führt auch zu nichts. Deshalb gilt es im Fall Nawalny erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln.
Das heißt nicht, dass man nicht schon jetzt mögliche Hintergründe und Folgen analysieren könnte. Das ist sogar umso dringender, als sich dabei das Bild einer hochexplosiven politischen Lage in Russland zeigt.
Frei nach der Devise: Fällt Minsk, fällt bald auch Moskau
Den Rahmen liefern die dramatischen Ereignisse der letzten Tage in Belarus, die den Kreml in eine extrem schwierige Lage gebracht haben. Putin kann der Demokratiebewegung nicht einfach ihren Lauf lassen. Am Ende stünde in Minsk womöglich eine frei gewählte Präsidentin Swetlana Tichanowskaja, die ihr Land auf Westkurs steuert.
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Geopolitisch, militärstrategisch und wirtschaftlich gehört Belarus aber zum Kernbestand, was man im Kreml als „russische Welt“ begreift, frei nach der Devise: Fällt Minsk, fällt bald auch Moskau.
Gefahr durch langfristiges Anschwellen der Unzufriedenheit
Allerdings birgt eine hybride Invasion im Nachbarland ebenfalls enorme Risiken. Dabei geht es gar nicht so sehr um mögliche Reaktionen des Westens. Die größte Gefahr für den Kreml wäre ein langfristiges Anschwellen der Unzufriedenheit im gesamten postsowjetischen Raum und damit auch in Russland selbst.
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Dass ein solches Szenario keineswegs aus der Luft gegriffen ist, zeigen die seit Wochen anhaltenden Proteste im fernöstlichen Chabarowsk. Jeden Sonnabend gehen dort seit Anfang Juli Tausende Menschen auf die Straße, weil der Kreml ihren populären und unbequemen Gouverneur inhaftieren ließ.
Immer wieder korrupte Machtstrukturen aufgedeckt
Spätestens an dieser Stelle kommt wieder Nawalny ins Spiel. Denn der 44-Jährige hat sich als Mann für genau solche Fälle einen Namen gemacht. Als gelernter Anwalt hat er immer wieder korrupte Machtstrukturen aufgedeckt, bis hin zu Putin-Vertrauten wie Ex-Präsident Dmitri Medwedew. Man hat Nawalny selten von westlichen Werten oder einer liberalen Moderne in Russland reden hören. Er hat lieber den Finger in die Wunden des Regimes gelegt, dorthin, wo es Putin am meisten wehtun musste. Lesen Sie auch: Russischer Oppositioneller Nawalny nach 30 Tagen wieder frei
Unter dem Strich hätten alle, denen Nawalnys Recherchen geschadet haben, ein Mordmotiv gehabt. Auch Präsident Putin und seine Vertrauten. Aber das ist schon wieder nah an der Spekulation, welches Ergebnis in diesem Fall zwei plus zwei ergeben könnte.