Berlin. Aus Angst vor einer Corona-Infektion verlassen zwei Frauen kaum ihre Wohnung. Von kleinen Wundern und Glücksmomenten in der Isolation.

In ihrer Wohnung hat Angelika Meyer gegen die Einsamkeit gekämpft. Jeder einzelne Quadratmeter trägt ihre Handschrift, sie hat die Räume erobert. Mit Farben, mit Kleinigkeiten, mit Bildern stabilisiert. Alles ist sauber, jedes Zimmer sieht aus, als hätte es ein Thema: maritim oder lila verträumt, grün und gesund. Keine Spuren von Trübsal, keine Vernachlässigung, jeder Zentimeter wirkt freundlich und lebensfroh. Nach fünf Monaten Corona-Isolation sieht es so aus, als hätte die 80-Jährige den Kampf gut überstanden.

Seit am 27. Januar die Meldung kam, dass sich ein Mann aus dem Landkreis Starnberg mit dem Coronavirus infiziert hat, verlässt Angelika Meyer ihre 60 Quadratmeter große Zwei-Zimmer-Wohnung kaum noch.

Sie hat sich isoliert vor dem Virus, das gerade für alte Menschen gefährlich ist. Seit dem Ausbruch sind über 9000 Menschen in Deutschland an den Folgen einer Covid-19-Infektion gestorben. Der A ltersdurchschnitt bei den Toten liegt bei 81 Jahren, 86 Prozent der Gestorbenen, 7768 Menschen, waren älter als 70 Jahre.

Angst vor der Corona-Pandemie: Angelika Meyer, 80 Jahre alt, Bluthochdruck

Die 80-jährige Meyer gehört schon wegen ihres Alters zur Gruppe der Menschen, für die eine Infektion mit dem Tod enden kann. In Deutschland sind wie Angelika Meyer 5,6 Millionen Menschen 80 Jahre und älter. Dazu hat sie Asthma und Bluthochdruck, laut RKI steigt damit zudem das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Angelika Meyer lebt in Berlin.

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Angelika Meyer auf ihrem Balkon in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin. Sie gehört zur Risikogruppe. Von hier aus hat sie das Leben draußen oft beobachtet.
Angelika Meyer auf ihrem Balkon in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin. Sie gehört zur Risikogruppe. Von hier aus hat sie das Leben draußen oft beobachtet. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die 80-Jährige öffnet in hellblauer Bluse und Jeans ihre Tür, trägt Mundschutz, hält Abstand, aber lächelt auffordernd. Für die Reporter macht sie eine Ausnahme. Eines ist ihr wichtig: Für diesen Text möchte sie „Angelika Meyer“ heißen, denn ihre Freunde und Verwandten sollen nicht erfahren, wie es ihr in den Corona-Monaten wirklich ging und wie sie ihr Überleben meisterte.

In Corona-Isolation: Claudia Schwarz aus München, 71 Jahre alt und COPD-Patient

In München sitzt Claudia Schwarz auf ihrem weichen grünen Sofa. Auch sie hat sich seit Monaten nicht mehr aus ihrer Wohnung bewegt. Per Video-Anruf erzählt sie von ihrer Situation. Sie ist 71 Jahre alt und bekam vor zwei Jahren die Diagnose COPD, chronisch obstruktive Lungenerkrankung.

Auch COPD steht auf der RKI-Liste der Vorerkrankungen, mit denen gepaart Covid-19 einen schweren Verlauf nehmen kann. Zudem hat Schwarz lange geraucht, auch ein Risikofaktor. Mit 18 Jahren hat sie angefangen, mit 69 aufgehört. Auf die Frage, wie viel sie geraucht hat, sagt sie: „40 am Tag, zuletzt“.

Aber das ist ihr unangenehm: „Ich will mich jetzt aber nicht die ganze Zeit übers Rauchen unterhalten“, mahnt sie. Sie zupft an ihren hennafarbenen Haaren, auch wenn sie krank sei, so sei sie doch noch eitel.

Schwarz gehört zu der Gruppe der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland. Laut Statistischem Bundesamt betrifft das insgesamt 3,4 Millionen Menschen in Deutschland. Davon werden 818.289 in Heimen betreut, der Rest lebt wie wie Schwarz zu Hause und bekommt ambulante Pflege.

Die Münchnerin Schwarz war in den 60ern und 70ern eine bekannte Folk-Sängerin

Claudia Schwarz war früher bekannt unter dem Namen Claudia Pohl, Ende der 60er-Jahre war sie Sängerin der österreichischen Folkband Jack’s Angels, und in den 70ern trat sie als Claudia Field mit den Les Humphries Singers auf. Nach ein paar Solo-Projekten verdiente sie ihren Unterhalt mit Werbung.

Sie sang „Nichts ist unmöglich: Toyota“, sie sang für Fa-Seife, sie sang für McDonald’s. Als sie nicht mehr singen konnte, sattelte sie um, wurde Köchin in der Mensa eines Münchner Gymnasiums. Aber mit Mitte 60 fehlte ihr immer öfter die Luft, um die Treppen in der Schule zu steigen oder etwas zu tragen. Sie musste aufhören zu arbeiten.

„Die Krankheit COPD hat viele Gesichter“, sagt sie, „während andere viel husten müssen, huste ich nie. Mir bleibt nur manchmal plötzlich die Luft weg.“ Das sei ein fürchterliches Gefühl.

Auf die Frage, wie sie die ganzen Monate in ihrer Wohnung verbracht habe, zeigt sie auf die Fensterbank hinter ihr. Dort stehen 15 Bücher. Die hat sie alle gelesen. „Just Kids“ von Patti Smith fand sie sehr gut, „Snobs” von Julian Fellowes, das war noch besser, Hubertus Meyer-Burckhardts „Diese ganze Scheiße mit der Zeit” hat ihr nicht so gut gefallen, Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“, richtig gut, und Muriel Barberys „Die letzte Delikatesse“ war ihr zu verspielt.

Schwarz sei nicht der Typ für Trübsal. „Ich langweile mich nie“, sagt sie. Auch wenn sie sterbenskrank sei, es bringe nichts. „Let’s face it“ ist so ein Satz von ihr. Sie weiß, dass ihr die Krankheit irgendwann die Luft für immer raubt und dass sie bis dahin ohne die Begleitung eines mobilen Sauerstoffgerätes nie mehr das Haus verlassen wird. Unterkriegen, lässt sie sich aber nicht. „Gerade an Corona möchte ich jetzt nicht sterben.“

Die ehemalige Folk-Sängerin Claudia Schwarz, die unter der Lungenkrankheit COPD leidet, hat mit Redakteurin Diana Zinkler per Videoanruf gesprochen. Um sich nicht mit Covid-19 zu infizieren, blieb sie über Monate in ihrer Wohnung.
Die ehemalige Folk-Sängerin Claudia Schwarz, die unter der Lungenkrankheit COPD leidet, hat mit Redakteurin Diana Zinkler per Videoanruf gesprochen. Um sich nicht mit Covid-19 zu infizieren, blieb sie über Monate in ihrer Wohnung. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Angelika Meyer aus Berlin malte, nähte und bastelte, nach Ostern fiel sie ins Loch

Angelika Meyers Wohnzimmer in Berlin ist klein und fein. An den Wänden reiht sich Bild an Bild, Picasso, Manet, Monet. Die Meister der Moderne. Stolz sagt sie: „Habe ich alle abgemalt, alles, was mir gefällt und ich mir natürlich nicht leisten kann.“ Es sind gute Kopien. Meyer malt, bastelt, näht, sie hält sich beschäftigt.

„Ich habe gleich am Anfang beschlossen, ich bleibe drin!“ Ihr blonder Pagenkopf ist am Haaransatz leicht platinfarben, sie konnte ja nicht zum Friseur. Sie hielt sich an die Empfehlungen von Gesundheitsminister Jens Spahn, der im März sagte: „Ärzte, Pfleger, Sanitäter, Apotheker können nicht ins Homeoffice gehen. Sie sind diejenigen, auf die wir uns alle verlassen, wenn wir krank werden. Wir können sie dabei unterstützen: indem wir, wann immer möglich, zu Hause bleiben.“

Aber natürlich geht es für sie um mehr: „Weil ich noch leben will“, sagt Meyer. Auf ihrem Sofa im Barockstil erzählt sie von diesem Leben. Von ihrem Vater, einem Schiffer, der als Soldat nicht mehr aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkam. Von ihrer Liebe zum Meer und der Frage, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn die Mutter das Lastenschiff des Vaters nicht verkauft hätte nach dem Krieg. Von ihrer Liebe zu Frankreich, wo sie als junge Frau fünf Jahre als Kindermädchen arbeitete. Von ihrer Rückkehr nach Berlin, ihrer Ausbildung zur Schneiderin und ihrer gescheiterten Ehe.

Videografik- So wird eine Corona-Infektion festgestellt

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    Ein brutaler Ehemann, jede Menge Jobs, kleine Rente

    „Der hat mich geschlagen“, sagt sie mit gesenktem Kopf. Da hat sie sich scheiden lassen und die Tochter allein aufgezogen. Meyers Leben ist voll und hart. Zeitweise hatte sie mehrere Jobs gleichzeitig. Hat nachmittags in einer Bäckerei gearbeitet und am Wochenende Kinderkleider genäht, die sie vormittags auf Wochenmärkten verkauft hat.

    Ihre Rente ist klein, sie hat 810 Euro und erhält dazu seit Juni 150 Euro Grundrente. Für ihre Wohnung zahlt sie 550 Euro Miete, dazu kommen noch Strom und Telefon. Für Kleidung, kulturelle Teilhabe und Essen bleiben ihr rund 300 Euro im Monat. Sie sei sparsam. Sie könne sogar zweimal im Jahr nach Warnemünde fahren. Nur in diesem Frühjahr musste Warnemünde wegen Corona ausfallen.

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    Claudia Schwarz will nicht über ihre Finanzen sprechen. Sagt aber, dass sie seit der Krankheit kaum etwas ausgebe. „Wenn ich mich jetzt mal mit Freunden im Lokal treffe, kann ich ja nie so lange bleiben, weil es zu anstrengend wird. Früher sind wir an einem Abend in drei Lokale gegangen.“

    In München hat Schwarz einen Untermieter, der nicht bemerkte, wie sie fast starb

    Im Münchner Stadtteil Pasing wohnt sie in einer Vier-Zimmer-Wohnung, wovon sie ein Zimmer untervermietet hat. Während der Corona-Zeit hat sie ihren Untermieter fast nie gesehen. Einmal, das war noch vor Corona, musste sie den Notknopf des Malteser Hilfsdiensts drücken, weil sie keine Luft mehr bekam. Die Malteser klingelten und klopften an der Wohnungstür, brachen sie dann auf und retteten Claudia Schwarz das Leben. Der Mitbewohner saß in seinem Zimmer und hatte Kopfhörer auf.

    Ein anderes Mal, als ihr die Luft wegblieb, wurde sie von ihrem Pflegedienst gerettet, einmal täglich kommt jemand für 20 bis 40 Minuten. „Ich habe geträumt, dass ich in eine rosa Welle aus Zuckerwatte tauche. Es war so warm und schön, dass ich unbedingt rein wollte.“ Die Pflegerin rief den Notarzt, der Schwarz zurückholte.

    „Als ich wieder bei Bewusstsein war, sagte er mir, dass es dieses Mal knapp war.“ Wegen COPD war Claudia Schwarz schon fünfmal im Krankenhaus. Zum Glück habe sie während der Corona-Wochen keinen Anfall gehabt, da hätte sie sich vielleicht sogar im Krankenhaus mit dem Virus anstecken können, fürchtet sie.

    Nach Ostern konnte sich Meyer in Berlin zu nichts mehr aufraffen

    Angelika Meyer litt unter der Isolation in ihrer Wohnung. „In den ersten Wochen bis Ostern habe ich alle Steine, die ich in Warnemünde gesammelt habe, angemalt. Im Hundertwasserstil.“ Die Steine habe sie auf ihren Spaziergängen an Spielplätzen und Parks ausgelegt. Sie hat beobachtet, ob sie mitgenommen werden. Nach kurzer Zeit hatten alle Steine neue Besitzer, viele Kinder darunter.

    „Aber nach Ostern konnte ich mich zu nichts mehr aufraffen.“ Meyers typischer Tag war so: Aufstehen und anziehen, dann Kaffee machen, wieder aufs Bett legen und Morgenmagazin gucken. Dann Essen kochen. „Und am Nachmittag wusste ich nicht mehr, was ich noch tun soll.“ Eine Zeit lang hat sie Mundschützer genäht und an Bekannte verschickt. Vor Langeweile ging sie von Raum zu Raum. „Ich habe mich wie im Gefängnis gefühlt“, sagt sie. Nach einer Stunde Fernsehen wusste sie manchmal nicht mehr, was sie eigentlich geschaut hatte. „Ich habe Löcher in die Luft gestarrt, die Einsamkeit zu überstehen, war schwer.“

    Etwas Gutes hat die Corona-Pandemie: Es melden sich lang Vermisste

    Irgendwann klingelte es an ihrer Tür. Sie schaute von ihrem Balkon herunter. „Und da war er, mein Ein und Alles“, sagt sie, ihr Enkelkind war gekommen, um nach ihr zu sehen. Vier Jahre lang hatte sie keinen Kontakt zu dem 21-Jährigen, auch nicht zu ihrer Tochter, die heute 52 ist. Die Frage, was dazu führte, kann Meyer nicht beantworten. „Als mein Enkel kurz hier war, habe ich mir vorgenommen, ihn nicht auszufragen. Ich war fix und fertig und wollte keinen Fehler machen.“

    Sie hielt es dann doch nicht aus und fragte: „Warum hast du dich vier Jahre lang nicht gemeldet, was habe ich falsch gemacht?“ Angelika Meyer muss kurz seufzen, mit einem Taschentuch wischt sie sich die Tränen weg. „Er sagte dann zu mir: ,Nichts Omi, du hast nichts falsch gemacht.’“ Vor Freude schenkte sie ihm ihr kleines Auto, einen Mitsubishi Colt. Nur manchmal möchte sie sich das Auto noch ausleihen dürfen. Ein paar Tage später meldete sich auch die Tochter. Meyer hat inzwischen den Eindruck, dass sie etwas gutmachen will.

    Was die Tochter aber nicht wissen soll, Angelika Meyer ist Kunde bei der Essenstafel der evangelischen Kirche in ihrem Stadtteil. Für einen symbolischen Euro bekommt sie Lebensmittel. Das möchte sie gern geheim halten. Einerseits aus Scham, andererseits, weil sie Angst hat, dass die Tochter schimpft.

    Die Tafel hatte während der Kontaktbeschränkungen geschlossen. Doch die Ehrenamtlichen riefen bei Meyer an und fragten, ob sie einmal in der Woche eine Tüte mit Lebensmitteln vorbeibringen dürfen. „Ich bin darüber so froh gewesen. Das war jedes Mal wie der Besuch vom Weihnachtsmann.“

    Zwei Frauen, die die Zeit wegen anderer Menschen überstanden haben

    Was wäre eigentlich gewesen, wenn es die Ehrenamtlichen von der Tafel nicht gegeben hätte? Und wenn Claudia Schwarz keinen Pflegedienst gehabt hätte? Für beide Frauen hat das System funktioniert. Waren es Menschen, die ihnen in ihren schwersten Momenten halfen.

    Zu Angelika Meyer in Berlin sind einmal sogar völlig Fremde gekommen. Ein Pärchen von der Nachbarschaftshilfe klingelte und legte ihr einen Blumenstrauß vor die Tür. „Jeder, der sich bei mir in den vergangenen Wochen gemeldet hat, hat mir geholfen, die Zeit zu überstehen“, sagt Meyer. Letzten Sonntag hat sie sich erstmals wieder mit ihren Freundinnen zum Kaffee getroffen. Von der Tafel wissen sie nichts. Der Enkel fuhr noch mal mit dem Auto vor, verabschiedete sich, er fährt mit der Freundin und dem Auto in den Urlaub.

    Claudia Schwarz bekommt an diesem Wochenende ebenfalls Besuch. Mit ihrer Schwester aus Berlin will sie dann rausgehen. Mitsamt Sauerstoffgerät. Katze Nikolai Gogol wird dann nach Monaten zum ersten Mal wieder allein auf dem Sofa sitzen müssen.