Berlin. Die Kanzlerin wird heute 66 Jahre alt. Sie hat ein Jahr voller Prüfungen hinter sich - die bisher größte, die Corona-Krise, muss sie noch meistern.
Höhen und Tiefen eines Lebensjahres: Vielleicht wird die Kanzlerin im EU-Ratsgebäude in Brüssel kurz innehalten und zurückblicken. Einen Anlass gäbe es: Angela Merkel feiert an diesem Freitag ihren 66. Geburtstag.
Irgendwie passt es zu Merkel, dass sie ihren Geburtstag statt mit Familie in der Uckermark im Kreis der anderen EU-Staats- und -Regierungschefs verbringen muss. Immerhin, diesmal in Brüssel und physisch, nicht per Videoschalte aus dem Kanzleramt. Es ist ihr lieber so. Doch Corona verändert auch die Gipfel-Gewohnheiten: So sind etwa die Delegationen deutlich kleiner, was die Verhandlungen um den 750 Milliarden Euro schweren EU-Wiederaufbaufonds nicht einfacher macht.
Merkel: Schiedsrichterin in schicksalhaften EU-Verhandlungen
Es drohen quälend lange Konferenzen, eine oder sogar zwei Nachtsitzungen, Dauergespräche, Dauerrechnen. Merkels Qualitäten als Verhandlerin werden teils bewundert, teils gefürchtet. An diesem Wochenende jedenfalls sind sie gefragt. Nicht ausgeschlossen aber, dass es der CDU-Politikerin, die sich zum 50. Geburtstag einen Vortrag des Hirnforschers Wolf Singer über die „Utopie der Planbarkeit der Zukunft“ wünschte, so gefällt – Geburtstag hin oder her.
Merkel wird als Chefin der deutschen Ratspräsidentschaft auch eine Art Schiedsrichterin in den Verhandlungen sein – auf einem Gipfel, der durchaus als schicksalhaft angesehen werden darf.
Das größte Geschenk könnten die EU-Staats- und -Regierungschefs der Deutschen machen. Eine Einigung auf den Wiederaufbaufonds, den sie gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron initiiert hat, wäre ein Erfolg. Merkel wird vieles dafür in die Waagschale werfen – auch weil sie davon überzeugt ist, dass es nicht nur um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise geht, sondern um Europas künftige Stellung in der Welt.
Schaut man auf Merkels vergangenes Lebensjahr zurück, so stellt sich die persönliche und politische Situation der Kanzlerin deutlich anders da. Vor einem Jahr war unklar, ob sie als Regierungschefin die deutsche Ratspräsidentschaft überhaupt erreicht.
Merkel überwindet ihre schwierige, persönliche Prüfung
Rückblick: Was ihr denn der 65. Geburtstag bedeute, wurde sie im Sommer 2019 gefragt. „Dass man nicht jünger wird. Aber erfahrener. Vielleicht. Alles hat seine gute Seite.“ Das „Vielleicht“ war interessant, zeigte es doch einen Anflug von Zweifel. Zweifel an vielem, auch an sich selbst. Denn rund um ihren letzten Geburtstag musste Merkel etwas tun, was sie tunlichst vermeidet: über sich selbst reden, Befindlichkeiten mitteilen, Schwächen öffentlich machen. Grund waren drei massive Zitteranfälle bei öffentlichen Auftritten, der erste davon im Hof des Kanzleramts beim Lauschen der deutschen Nationalhymne.
Die Doktorin der Physik musste danach der Weltöffentlichkeit ihre heftigen Schwindelattacken erklären, vor Staatsgästen über ihren Gesundheitszustand reden. Das lief ihrer Natur zuwider, es sei eine „schwierige Prüfung“, hieß es aus ihrem Umfeld. Ihre Mutter war im Frühjahr verstorben, zum Verarbeiten des Verlusts war offenbar nie wirklich Zeit geblieben – möglicherweise hatte dies einen Anteil. Sie sei „fest davon überzeugt, dass ich gut leistungsfähig bin“, versuchte Merkel Zweifel auszuräumen, dass sie ihr Amt noch richtig ausfüllen kann, und sprach von einer „Verarbeitungsphase“ des ersten Zitterkrampfes.
Sie reagierte pragmatisch und saß künftig bei der deutschen Hymne, im In- und Ausland. Ebenfalls im Sommer musste das Flugzeug, das sie und ihre Delegation zum G20-Treffen bringen sollte, notlanden. Wie knapp man einer Katastrophe dabei entkam, wusste die Kanzlerin wahrscheinlich am besten.
Doch sie erholte sich, nur bei länger andauernden Terminen wurde die berühmte Merkel-Raute manchmal abgelöst von einem Verschränken der Arme – so, als hielte sie sich selbst ein wenig fest. Das Regieren ging weiter: Die Koalition aus Union und SPD verabschiedete im Herbst in einer legendären Nachtsitzung ein lang umstrittenes Klimakonzept. Doch die große Koalition stand ob der Personalquerelen in der SPD mehrfach auf der Kippe; Neuwahlen im Frühjahr dieses Jahres schienen nach der Schlappe von SPD-Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz mehr als einmal eine realistische Option.
Merkel 2020: Rechtsextremistische Attentate, Thüringen-Wahl, Corona
Bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen legte die AfD immens zu, Merkel äußerte sich öffentlich kaum. Im Oktober versuchte ein rechtsextremistischer Attentäter Juden in der Synagoge von Halle zu erschießen, zwei Menschen brachte er um. Die Kanzlerin erschien kurz nach dem Attentat sichtlich erschüttert in der Berliner Synagoge. 2020, Anfang Februar schaffte es Merkels CDU in Thüringen, zusammen mit der FDP, eine innenpolitische Krise zu schaffen.
Die CDU wählte einen FDP-Politiker zum Ministerpräsidenten – mit den Stimmen der AfD. Die CDU-Chefin, Merkels Vertraute Annegret Kramp-Karrenbauer, kündigte in den politischen Wirren danach ihren Rückzug an. Merkel rüffelte ihre Partei deutlich. Kurz darauf erschütterte eine Mordserie in Hanau die Republik. Ein Attentäter erschoss neun Menschen mit ausländischen Wurzeln sowie anschließend seine Mutter und sich selbst. Es herrschten Schrecken und Fassungslosigkeit. Und dann, quasi über Nacht gesellte sich eine medizinische Ausnahmesituation dazu, die sich zur größten Krise in Merkels Amtszeit entwickeln sollte: Corona.
Es war Mittwoch, der 18. März 2020, als sich die Kanzlerin mit einer dramatischen TV-Rede an die Nation wandte. Es war eine Ansprache, die es von ihr so nie zuvor gegeben hatte. Ein ungewohnt persönlicher, emotionaler Appell: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankam“, beschwor sie ihre Landsleute, das gesellschaftliche Leben komplett herunterzufahren.
Die Warnung war deutlich: „Wie hoch werden die Opfer sein? Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren? Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand. Wir können jetzt, entschlossen, alle miteinander reagieren.“
Corona-Krise ist Merkels größte Herausforderung
Die Deutschen folgten ihrer Regierungschefin, nahmen einen Lockdown in Kauf. Die medizinische Katastrophe blieb in den ersten Monaten der Pandemie aus, die Schäden der Wirtschaft konnte ein gut aufgestellter Staat zumindest mindern. Für Merkel, die in ihrer mittlerweile fast 15-jährigen Amtszeit Banken-, Euro-, Flüchtlings- und diverse Koalitionskrisen überstanden hat, ist es die größte Herausforderung. Der Ausgang ist sowohl medizinisch als auch gesellschaftlich und wirtschaftlich noch völlig offen.
Ihr vorsichtiger Umgang damit machte Merkel zur beliebten Krisenmanagerin. Mittlerweile gibt es kaum noch Zweifel, dass sie bis zur Wahl 2021 im Amt bleibt – und dann abtritt. Sie meint es ernst damit, sich nach dieser Legislatur vollständig aus dem politischen Leben zurückzuziehen. Dass man ihr ihre Absage an alle politischen Ämter lange nicht geglaubt hat, hat sie verwundert. Sie selbst hatte bereits an ihrem 60. Geburtstag Horst Seehofer zitiert: „Wenn es heute schön ist, muss es morgen nicht genauso sein. Das ist das Wesen von Politik.“
Noch ist es aber nicht so weit: Fragt man einen Vertrauten wie die Kanzlerin ihren Jubeltag begeht, bekommt man eine knappe Antwort: Arbeitsam.
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