Berlin. Das Urteil gegen den „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel wirft ein Schlaglicht auf den Erdogan-Staat. Die EU darf nicht nur zusehen.

Das Urteil gegen den deutsch-türkischen „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel ist – leider – alles andere als überraschend. Yücel wurde in Abwesenheit wegen „Terrorpropaganda“ zu mehr als zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Das Urteil von Istanbul bleibt zwar deutlich unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft. Dennoch ist es das Ergebnis einer Justiz, die sich allzu oft als Erfüllungsgehilfin des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan begriffen hat.

Der Staatschef hat sich während des Prozesses immer wieder eingemischt, Yücel als „Agenten“ gebrandmarkt und damit den Richtern gezeigt, wo es langgehen soll. Die Entscheidung wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der Türkei unter Erdogan.

Yücel-Fall: Zahlreiche Menschen sind noch immer inhaftiert

Die Medien sind mittlerweile fast ausnahmslos auf Regierungslinie gebracht. Viele Journalisten, die nur ihren Job machen wollten, sitzen im Gefängnis. Tausende Richter, Beamte und Lehrer sind in Haft.

Es genügt – wahlweise – einer der Generalvorwürfe: „Terrorunterstützung“, „Anhänger der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen“ oder „Helfershelfer der PKK“, die in Deutschland, in der EU und in den USA als terroristische Vereinigung eingestuft wird.

Erdogan verlangt blinde Gefolgschaft. Er reagiert allergisch gegen jedwede Kritik, und sei sie noch so leise. Er hat den Staat auf seine Person zugeschnitten. Eine freie Presse stört ihn in seinem Bestreben nach absoluter Macht-Konzentration ebenso wie die Meinungsvielfalt einer demokratischen Gesellschaft.

Erdogan: Auch außenpolitisch immer skrupelloser

Michael Backfisch kommentiert.
Michael Backfisch kommentiert. © Reto Klar | Reto Klar

Auch in der Außenpolitik tritt Erdogan immer aggressiver auf. Erst intervenierten seine Truppen in Nordsyrien, dann in Libyen. Zusammen mit seinem autokratischen Bruder im Geiste, Russlands Präsident Wladimir Putin, hat er einen de-facto-Pakt über die Aufteilung des nordafrikanischen Landes geschlossen. Es geht um Öl- und Gasinteressen sowie milliardenschwere Aufträge, wenn eines Tages die Zeit für den Wiederaufbau abgebrochen ist.

Hinzu kommt ein machtpolitischer Hebel. Wenn Erdogan und Putin in Libyen das Sagen haben, sind sie auch die Herren über die Flüchtlingsströme. Libyen ist ein wichtiges Transitland für Geflüchtete aus Zentral- und Westafrika auf dem Weg nach Europa.

Der türkische Staatschef hat keine Skrupel, auch im Maghreb „das Tor zu öffnen“, wenn er damit politische Vorteile von der EU erpressen kann. Wie das funktioniert, hat er im Februar bereits ans der Grenze zu Griechenland vorexerziert.

Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei

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    Yücel-Fall und Erdogan-Politik: Die EU darf nicht mehr zusehen

    Auch die offensiven Erdgasbohrungen im Mittelmeer sind ein Beleg für den wirtschaftspolitischen Nationalismus Erdogans. Er legte zusammen mit Libyens Präsident Fayiz as-Sarradsch einseitig Wirtschaftszonen durch Mittelmeer fest. Das ist nicht nur ein Verstoß gegen die UN-Seerechtskonvention. Die Bohrungen vor der Küste Zyperns und wohl auch bald vor Kreta sind zudem eine Brüskierung der beiden EU-Länder.

    Die Europäische Union darf nicht länger einfach nur zusehen. Erdogan setzt zwar immer wieder auf militärische Muskelspiele zur Legitimierung nach innen und zur Einschüchterung nach außen. Doch die Türkei ist wirtschaftlich verletzlich. Sie braucht Touristen ebenso dringend wie ausländische Investitionen.

    Brüssel sollte die Erweiterung der Zollunion als Verhandlungs-Chip nutzen. Man muss nicht immer gleich den großen Knüppel mit dem Abbruch der EU-Beitrittsgespräche herausziehen – diese liegen ohnehin auf Eis. Aber gezielte Aktionen sind gefragt. Dazu gehören auch Sanktionen gegen Unternehmen und Personen, die das Waffenembargo in Libyen brechen. Und zwar mit Blick auf die Türkei wie auf Russland.

    Deniz Yücel – Mehr zum Fall

    Deniz Yücel wurde am Donnerstag in Abwesenheit in Istanbul verurteilt. Hintergrund: Yücel in Türkei wegen angeblicher PKK-Propaganda verurteilt. Davor saß Yücel in Ankara in Haft – zu Unrecht: Yücels Haft war laut türkischem Gericht rechtswidrig. Auch andere Deutsche wurden in der Türkei inhaftiert: Diese Deutschen waren in der Türkei in Haft.