Berlin. Seit dem Ausbruch des Coronavirus finden fast keine Rückführungen mehr statt. Selbst Straftäter können sich relativ sicher fühlen.

Die Corona-Pandemie ist auch in der Asylpolitik wie ein Filmriss. Der Zustrom der Migranten wurde jäh gestoppt, er erreicht aber allmählich wieder frühere Größenordnungen. In der letzten Woche meldeten die Erstaufnahmeeinrichtungen an jedem Wochentag im Schnitt 300 bis 400 Zugänge.

„Angesichts der stetig wachsenden Asylzugangszahlen sollten die Länder auch das Thema Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer wieder aufnehmen und forcieren“, fordert der CDU-Innenpolitiker Armin Schuster im Gespräch mit unserer Redaktion. Doch das Abschiebesystem ist weitgehend lahmgelegt. Sogar Straftäter können sich relativ sicher fühlen.

Zum Jahreswechsel ging man von 248.000 Ausreisepflichtigen aus, doppelt so viele wie vor sieben Jahren. Sie leben hier ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Es ist das Ziel der Bundesregierung, dass sie Deutschland verlassen. Ende Mai lag diese Zahl laut Bundesinnenministerium schon bei 266.605 (davon Geduldete: 215.613). Sie steuert auf eine n eue Höchstmarke bis Jahresende zu.

Auf der einen Seite müssen die Verwaltungsgerichte über Altfälle entscheiden, ein Treiberfaktor. Auf der anderen Seite kann die Zahl schwer sinken: Seit Mitte März gibt es kaum Rückführungen. Deutschlands Rückkehrpolitik stecke „in der Dauerkrise“, klagt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Erst wurden Flüge annulliert, Grenzen geschlossen. Jetzt wird zwar wieder geflogen und selbst in den eta­blierten Airlines rümpft man nicht mehr die Nase über die Abschiebepassagiere an Bord; man ist für jedes verkaufte Ticket dankbar. Nun aber blocken die Herkunfts-, Transit- und Zielländer Rückführungen wegen der Infektionsgefahr ab.

Eine Abschiebung in Leipzig: Polizeibeamte begleiten einen Afghanen in ein Charterflugzeug – die große Ausnahme in Corona-Zeiten.
Eine Abschiebung in Leipzig: Polizeibeamte begleiten einen Afghanen in ein Charterflugzeug – die große Ausnahme in Corona-Zeiten. © dpa | Michael Kappeler

Zahl der Abschiebungen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum halbiert

Ab dem 16. März kam es zum Stillstand. Beispiel Niedersachsen: Im März gab es 22 Überstellungen innerhalb Europas. Außerdem wurden 90 Personen abgeschoben, im April fünf, im Mai keiner mehr, im Juni 15. Beispiel Bayern: 470 Rückführungen in den ersten zwei Monaten, von März bis Mai nur 100.

Zum 16. April waren die sogenannten Dublin-Überstellungen innerhalb Europas offiziell ausgesetzt worden. Die Zahl der Rückführungen hat sich von Januar bis Mai im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von 10.951 auf 5022 (4210 Abschiebungen und 812 Zurückschiebungen) halbiert, wie das Bundesinnenministerium mitteilt.

Davon fanden aber die meisten, etwa 4700, vor Ausbruch der Pandemie statt. Und danach? Im Mai fanden noch zwei größere Sammelabschiebungen nach Tadschikistan und Serbien statt. Für die nächsten zwei Monate sind nach unseren Recherchen gerade 40 begleitete Rückführungen geplant.

2019 reisten 13.000 Zuwanderer freiwillig aus. 22.000 Menschen wurden abgeschoben. Solche Zahlen sind in Corona-Zeiten illusorisch, obwohl das Innenministerium Ende Mai den Stopp der Luftabschiebungen aufgehoben hat.

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Seehofer dringt auf baldige Wiederaufnahme von Rückführungen

Mitte Juni bat Minister Horst Seehofer (CSU) seine Länderkollegen auf ihrer Konferenz in Erfurt darum, die Rückführungen anlaufen zu lassen, vor allem Gefährder und Intensivtäter. Es ist indes weniger eine Frage des Wollens als des Könnens.

Selbst Parteifreunde wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann müssen erkennen, dass die Krise neue Rahmenbedingungen geschaffen hat. Niemand weiß, wann Abschiebungen wieder im großen Stil möglich sein werden, vielleicht im zweiten Halbjahr, vielleicht erst 2021. In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus die Schutzrechte abgelehnter Asylbewerber aus Afghanistan vor vorschnellen Abschiebungen gestärkt.

Herrmann sagte unserer Redaktion, ihm sei wichtig, „dass wir entsprechend dem Rückgang der Infektionszahlen auch wieder zur Normalität bei den Abschiebungen zurückkehren“. Er sei fest davon überzeugt, dass ein Asylsystem auf die Dauer nur dann akzeptiert werde, wenn der Rechtsstaat seine Entscheidungen auch konsequent umsetze.

Das Bundesinnenministerium weiß natürlich, dass viele Länder die Einreise ihrer Staatsangehörigen ablehnen oder sie „auf unabdingbare, wenige Fallkon­stellationen“ beschränken. Seehofer dringt nach Angaben einer Sprecherin bei den Herkunftsstaaten auf eine baldige Wiederaufnahme von Rückführungen.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ist wichtig, „dass wir entsprechend dem Rückgang der Infektionszahlen auch wieder zur Normalität bei den Abschiebungen zurückkehren“.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ist wichtig, „dass wir entsprechend dem Rückgang der Infektionszahlen auch wieder zur Normalität bei den Abschiebungen zurückkehren“. © dpa | Lino Mirgeler

Ampelsystem für Abschiebungen – und keine Ampel zeigt grün

Nach unseren Recherchen führt die Bundespolizei eine Liste mit 121 Staaten, von Afghanistan bis Zypern, geordnet nach einem Ampelsystem. Grün bedeutet: Abschiebungen sind möglich. Am Montag war nach unseren Recherchen kein Land auf Grün.

Gelb bedeutet: im Einzelfall möglich. Auf Gelb steht zum Beispiel die Slowakei, auf Rot Slowenien und Staaten wie Afghanistan, selbstredend Syrien (ein Abschiebestopp wurde bis Jahresende verlängert), aber auch die Türkei, Russland, Nigeria, Vietnam, Usbekistan, Tunesien, Togo oder Tansania. Nicht selten sind darunter auch EU-Partner wie die Mittelmeerinsel Zypern.

Folglich wird keine Abschiebehaft verhängt. Die Richter haben keine Wahl. Sie müssen die Verhältnismäßigkeit einer Abschiebung überprüfen, ob der Betreffende untertauchen könnte, nicht zuletzt, ob alles geregelt ist: Passersatzpapiere, Genehmigung des Ziellandes, Abschiebung innerhalb eines vertretbaren Zeitraums. Wenn das nicht garantiert wird, kann kein Richter „ins Blaue hinein“ einer Abschiebehaft zustimmen.

Unserer Redaktion liegt eine Fallsammlung von Straftätern vor, die nicht abgeschoben werden konnten. Gleich zweimal – am 27. Mai und am 24. Juni – versuchte Niedersachsen Victor O. nach Nigeria zu bringen, einen Mann, der von den Behörden als Sexualstraftäter mit hoher Rückfallgefährdung geführt wird. Beide Male erhielt man keine Landegenehmigung.

Gescheitert ist auch im März in Schleswig-Holstein die Abschiebung von Suren J. (schwerer Raub) nach Armenien, von Kakha G. (Waffendiebstahl) und Gurami T. von Sachsen nach Georgien, im April von Peace S. (Diebstahl, Hausfriedensbruch) von Baden-Württemberg nach Lagos und im Saarland vom Sexualstraftäter Gul Z. nach Pakistan. In einigen Fällen sind die Straftäter auf freiem Fuß, weil sie die Haftstrafe in Deutschland abgesessen haben