Berlin. Fehlende Untersuchungen zur Einschulung, wenig Zeit für Begegnungen: Warum Corona vielen kommenden Erstklässlern Schwierigkeiten macht.

Feiern nur draußen, engste Familie statt großer Kreis – wenn in wenigen Wochen in den ersten Bundesländern Einschulungsfeiern stattfinden, werden sie an vielen Orten genau wie das vergangene Schuljahr im Zeichen von Corona stehen.

Doch für hunderttausende Erstklässler und ihre Familien ist das möglicherweise nicht die größte Änderung durch die Pandemie. Experten warnen: Die Corona-Zwangspause der letzten Monate in den Kitas könnte für einige Kinder, die jetzt in ihre Schulkarriere starten, langfristige Folgen haben.

Wegen Corona-Pandemie – keine Einschulungsuntersuchungen

Das grundlegende Problem ist, dass in vielen Städten und Gemeinden in diesem Jahr keine Einschulungsuntersuchungen stattfinden. Zuerst Alarm geschlagen hatten die Berliner Kinder- und Jugendärzte: Die Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes sind mit der Bekämpfung der Pandemie ausgelastet. Deshalb können sie die Einschulungsuntersuchungen nicht übernehmen.

Bei diesen Terminen überprüfen Mediziner, ob Vorschulkinder bereit sind für die erste Klasse. Sie testen die motorische Fähigkeiten und Sinnesorgane sowie die mentale und soziale Fitness der Kinder. Lesen Sie auch: Tönnies-Ausbruch zeigt: Die Corona-Krise schwelt weiter

Wer noch nicht bereit ist für die Schule, wird unter Umständen ein Jahr später eingeschult und hat so mehr Zeit, sich zu entwickeln. Dass die Untersuchung bei einem ganzen Jahrgang der Berliner Kinder ausfällt, sei „ein neuer Höhepunkt“ in der Krise des öffentlichen Gesundheitsdienstes, so der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Berlin (BVKJ).

Für Kinder aus schwierigen Verhältnissen dramatisch

Und Berlin ist nicht das einzige Bundesland, in dem die Pandemie die Ressourcen der Gesundheitsämter soweit strapaziert, dass für die Untersuchungen in diesem Jahr kein Raum ist. So meldeten zum Beispiel auch Kommunen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, dass sie Probleme hätten, die Termine durchzuführen, heißt es vom Deutschen Städte- und Gemeindebund.

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte zeigt sich alarmiert. Für Kinder, die ihrem Alter gemäß entwickelt sind, sei der Wegfall der Untersuchungen kein Problem. „Aber für Kinder mit Behinderung, mit schulischem Förderbedarf, der in solchen Untersuchung festgestellt werden könnte, für Kinder aus schwierigen Sozialverhältnissen ist es dramatisch“, sagt Thomas Fischbach, Präsident des BVKJ, unserer Redaktion.

Diese Kinder bräuchten sehr dringend eine solche Untersuchung, weil sie sonst nicht die Unterstützung bekommen, die sie benötigen. „Es kann zum Beispiel sein, dass Kinder in der falschen Schulform landen und später wechseln müssen, mit all dem Stress und den Konsequenzen, die das hat.“

Kinder- und Jugendärzte: Untersuchungen ermöglichen

Die Kinder- und Jugendärzte fordern deshalb, zumindest für jene Kinder, bei denen Ärzte und Erzieher Bedarf für mehr Unterstützung vermuten, die Untersuchungen vor dem Schulstart zu ermöglichen – und sie generell für alle so schnell wie möglich nachzuholen. Lesen Sie auch: Corona: Christian Drosten warnt vor neuer Kinder-Studie

Doch es sind nicht nur die fehlenden Einschulungsuntersuchungen, die Experten Sorgen machen. Das Problem beginne schon vorher, sagt Bildungsforscher Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin. Mit den Monaten, die die Kinder zuhause verbracht haben, falle etwas „ganz entscheidendes“ aus, erklärt er.

„Im letzten Jahr des Kindergartens passiert viel, was die Kinder auf die Schule vorbereitet, deswegen wird seit langem diskutiert, ob dieses Jahr verpflichtend werden sollte“, sagt Hurrelmann. „Man muss befürchten, dass alle Kinder, die das jetzt von zuhause nicht mitgekriegt haben, von Beginn an in einer Nachteilsstruktur landen.“

Grüne- Kinder haben ein Recht auf Schule

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    Schlechtere Startbedingungen ausgleichen

    Die Sorge ist, dass sich die Gräben durch ungleiche Startbedingungen damit noch einmal verschärfen könnten. Erst vor wenigen Tagen hatte der jüngste Nationale Bildungsbericht erneut bestätigt, dass kaum ein Faktor Bildungserfolg so stark beeinflusst wie der soziale Hintergrund der Kinder. Die Zeit in der Kita, mit pädagogischen Fachkräften und anderen Kindern, kann schlechtere Startbedingungen ein Stück weit ausgleichen.

    Etwa ein Drittel der Kinder, schätz Hurrelmann, werde sehr gut vorbereitet in die Schule starten, „weil die Eltern die Zeit der Betreuung zuhause intensiv genutzt haben“. Ein anderes Drittel dagegen werde große Startschwierigkeiten haben, unter anderem wegen Sprachschwierigkeiten. Der Rest finde sich irgendwo dazwischen. „Das wird ein sehr heterogener Jahrgang.“ Lesen Sie auch: Coronavirus: Wie die Krise die Gesellschaft voranbringt

    Große Entwicklungsunterschiede nicht neu

    An den Grundschulen beobachtet man die Lage aufmerksam. Große Entwicklungsunterschiede innerhalb eines Jahrgangs seien nicht neu, sagt Maresi Lassek, Vorsitzende des Fachverbands Grundschule. „Wir wissen seit Jahren, dass Kinder die zur Schule kommen, zwei bis drei Jahre auseinander sind im Stand ihrer Entwicklung.“

    Das könnten weder Kindergarten noch Schule komplett „wegpädagogisieren“. Was dem aktuellen Jahrgang allerdings fehle, seien die ersten Begegnungen mit der neuen Schule, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Mitschülern. Diese finden üblicherweise in den letzten Kita-Monaten statt, um die Kinder auf den neuen Abschnitt vorzubereiten. Auch interessant: Studie: „Von Kindern geht so gut wie keine Gefahr aus“

    Fachverband: Mehr Zeit zu Beginn des Schuljahres

    „Wie viel davon in den letzten Monaten passieren konnte, hängt auch sehr von der Kreativität der Kitas und Schulen ab“, sagt Lassek, die selbst lange Leiterin einer Grundschule war. Sie plädiert deshalb dafür, mehr Zeit zu Beginn des Schuljahres einzuräumen für gegenseitiges Kennenlernen, auch wenn das bedeutet, dass weniger Stoff vermittelt wird.

    „Man muss jetzt schauen, welche Inhalte dafür vielleicht in den Hintergrund rutschen und welche bestehen bleiben müssen“, sagte Lassek. Lehrkräfte müssten jetzt noch genauer als vorher hinschauen, wo ein Kind steht und welche Bedarfe es hat. „Dafür muss man Zeit einplanen.“

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