Washington/Berlin. US-Polizisten genießen eine andere Ausbildung als deutsche. Und mehr Schutz durch das Rechtssystem – auch bei schwersten Fehlern.

George Floyd, Minneapolis, Ray­shard Brooks, Atlanta: zwei Sterbetafeln, zwei Opfer von Polizeigewalt, zwei schwarze Männer. Mit jedem Vorfall wird in den USA nach einer Reform der Polizeiausbildung gerufen. Und es wird Zeit.

Joachim Kersten hat den Clip von George Floyds Tod gesehen. Das Video hat viele Leute anwidert. Kersten dagegen schaut darauf mit den Augen des Profis, eines Kriminologen. Ein schwarzer Mann ringt am Boden um Luft, weil ein Polizist auf seinem Hals kniet. Die Technik gehöre zur Ausbildung, sagt Kersten „sie wird geübt“.

Für ihn ist sie nicht per se Rassismus. „Das ist schlechte Polizei. So was gehört weg“, sagt er. Doch wie tief ist Rassismus wirklich in polizeilichen Strukturen verankert?

Die amerikanische Polizei und die „Tradition“ der Sklavenpatrouillen

„Die Wurzeln der professionellen Polizei in Amerika waren Sklavenpatrouillen“, weiß Jalane Dawn Schmidt. „Wenn Sklaven von den Plantagen flohen, wurden weiße Männer abkommandiert, um sie wieder einzufangen. Diese Patrouillen konnten jeden Schwarzen beliebig kontrollieren. Schwarze Körper, die sich frei bewegen, waren prinzipiell suspekt“, erklärt die Professorin für afro-amerikanische Studien an der Universität von Charlottesville in Virginia unserer Redaktion.

Diese Wurzeln sind auch 150 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei nicht gekappt worden. Bis heute würden schwarze Menschen vielfach von Polizisten nicht als gleichberechtigter Teil der Bevölkerung wahrgenommen, der das gleiche Recht auf Unversehrtheit habe. „Sondern als latente Bedrohung, die in Schach zu halten ist. Dahinter steckt ein Rassismus, der tief in der Psyche unseres Landes verwurzelt ist“, sagt die Professorin.

Wenn Reformen Graswurzelarbeit sind, ist Camden die richtige Feldstudie. Bis 2012 war die Indus­triestadt in New Jersey ein Hotspot von Polizeigewalt. Dann wurde die Polizeidirektion neu aufgestellt.

Chief Scott Thomson verordnete dem heute 370-köpfigen Officer-Heer einen fundamentalen Mentalitätswechsel. Seine Leute sollten sich nicht länger als „warrior“ (Krieger), sondern als „guardian“ (Wächter) empfinden. In der Ausbildung wurde fortan mehr Wert auf gewaltfreie Streitschlichtung gelegt. Schießen? Nur im absoluten Notfall.

Viele US-Polizisten und -Polizistinnen waren vorher in Afghanistan oder im Irak.
Viele US-Polizisten und -Polizistinnen waren vorher in Afghanistan oder im Irak. © AFP | TIMOTHY A. CLARY

Polizeiwissenschaftler: Deutsche Polizei völlig anders ausgebildet

Deutsche Beamte kennen es nicht anders. Die Ausbildung ist im Vergleich zu den USA „ein völlig anderes Universum“, sagt der langjährige Polizeiwissenschaftler Kersten, der zwei Jahre in Chicago lehrte. „Sie kriegen nach 20, 21 Wochen eine Dienstwaffe und einen Stern in die Hand gedrückt.“

In Deutschland dauert die Ausbildung drei Jahre, die Prägung ist völlig anders. Von seinen ehemaligen Studierenden an der Polizeihochschule in Münster hört Kersten oft: „Das Wort ist die mächtigste Waffe des Polizisten“. Lesen Sie auch: Diese Menschen starben in Deutschland nach Polizeieinsätzen.

Ob ihre US-Kollegen und -Kolleginnen das unterschreiben? In einem Land mit über 300 Millionen Waffen ist das Gefährdungsmoment höher. Ein Polizist muss zumindest in den „schwierigen Vierteln“ davon ausgehen, dass sein Gegenüber bewaffnet ist.

Viele US-Polizisten haben vorher im Irak oder in Afghanistan gekämpft

Bei der Ausbildung steht der Selbstschutz im Fokus. US-Anwärter und -Anwärterinnen werden vorwiegend an der Waffe ausgebildet. In Deutschland gehört mehr dazu, so etwa Recht, Verfassungsrecht, Psychologie, Gesprächsführung, Deeskalationsstrategien.

Das Schießen findet in Studios statt, „in denen im Grunde genommen das Nicht-Schießen geübt wird“, so Kersten. „Wenn wir angegriffen werden, neigen wir alle zu instinktivem Verhalten.“ Menschen, die das Recht haben, Gewalt anzuwenden, „müssen das in gewisser Weise verlernen und durch ein Verhalten ersetzen, das verhältnismäßig ist.“

Wie schwer muss die Unterdrückung von Reflexen erst sein, wenn wie in den USA ein Fünftel der Polizeianwärter Ex-Soldaten sind, die früher in Afghanistan oder im Irak waren? Ihre Kampferfahrung: „Der Feind ist draußen und hat eine andere Hautfarbe. Das haben sie gelernt und verinnerlicht.“ Kersten glaubt, dass dies eine Rolle spielt. „Die Beschwerden gegen Polizisten sind bei diesen Ex-Soldaten höher.“

US-Polizisten werden nur selten juristisch belangt

Da ist zum einen der schützende Korpsgeist, „eine gewisse Wagenburg-Mentalität“, die Kersten so beschreibt: „Ich bin von meinem Streifenpartner abhängig, also beschütze ich den auch, wenn er etwas tut, was nicht ganz richtig ist.“ Und da ist zum anderen das Rechtssystem.

Amerikanische Polizisten und Polizistinnen haben eine Weste übergestreift, die sie vor den meisten juristischen Splittern schützt: In zwei Grundsatzurteilen hat der Oberste Gerichtshof in Washington 1967 und 1989 die „eingeschränkte Immunität“ zementiert.

Trump reagiert mit Polizeireform auf Rassismus-Proteste

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    Sie schreibt fest, dass Cops juristisch nur dann haftbar gemacht werden können, wenn sie eindeutig gegen Gesetze und die Verfassung verstoßen haben. Anders als in Europa werden Polizisten und Polizistinnen in den USA nach fragwürdigen Einsätzen mit tödlichem Ausgang selten angeklagt. Und noch seltener verurteilt.

    US-Präsident Trump hält an Immunität für die „Cops“ fest

    Es ist dieses Schutzschild, das Bürgerrechtsgruppen, die Demokraten im Kongress und sogar einzelne Richter und Richterinnen des obersten Gerichts für den zentralen Stolperstein auf dem Weg zu einer Polizeireform halten – für US-Präsident Donald Trump ist die Immunität indes unantastbar.

    Dabei bezeichnen viele US-Amerikaner und Amerikanerinnen in Umfragen eine Polizeireform als unverzichtbar: 65 Prozent glauben, dass das Justizsystem mit Polizisten, die im Dienst töten oder anderen schwere Verletzungen zufügen, zu „nachsichtig“ umgehe.

    In der Vorzeigestadt Camden beteuert der hauptamtliche Gemeindevorstand Louis Cappelli Jr., ein Demokrat, seine Polizisten und Polizistinnen seien darauf trainiert, „farbenblind zu sein“. Und bürgernah aufzutreten: „Nur wer die Bürger mit Respekt behandelt, kann Respekt zurückerwarten.“

    Gewalt bei der Polizei – Mehr zum Thema

    Seit Wochen gehen Menschen in den USA auf die Straße. Polizeigewalt in den USA – Die Geduld ist aufgebraucht. Auch in Deutschland wird der Diskussion wieder mehr Beachtung geschenkt: Hat Deutschland ein Problem mit Rassismus und Polizeigewalt? Auch Arte hat sich mit dem Thema beschäftigt: Wie gewalttätig ist die Polizei? TV-Doku gibt Antworten.